
Interview mit
Dr. med. Anke Diehl
Dr. Diehl leitet seit Anfang 2021 die Stabsstelle Digitale Transformation der Universitätsmedizin Essen (UME). Die promovierte Humanmedizinerin hat viele Jahre klinische Erfahrung in Neurologie, Psychiatrie und Radiologie. Vier Jahre arbeitete sie in der
Neurologie des Alfried Krupp Krankenhauses, bevor sie 1998 in die Neuroradiologie am Universitätsklinikum Essen wechselte. Zwischen 2004 und 2010 leitete sie ein internationales Studienzentrum am UK Essen, danach sechs Jahre den Fachbereich Versorgungsstrukturentwicklung am Landeszentrum Gesundheit NRW. 2018 übernahm sie den Posten der Digital ChangeP Managerin der UME, bis sie ihre jetzige Position dort antrat. 2021 wurde Anke Diehl mit dem German Medical Award in der Kategorie „Medical Woman of the Year Award 2021 – Medizinerin des Jahres 2021“ ausgezeichnet. Anfang 2021 wurde sie in das 7-köpfige Expertengremium für Interoperabilität im Gesundheitswesen, das Interop Council, berufen.
Interview: Dr. med. Gudrun Westermann, Fotos: Sebastian Wolf
„Innovation ist ein Teamsport“
Frau Dr. Diehl, Sie haben in Ihrer Rolle als Chief Transformation Officer sicher mit sehr vielen Ebenen und Bereichen der Universitätsmedizin Essen zu tun. Vielleicht können Sie uns einen Einblick geben, mit welchen drei, vier Themen Sie sich letzte Woche besonders beschäftigt haben?
In der letzten Woche habe ich mich mit der Erstellung unseres Patientenportals beschäftigt. Das ist klassischerweise etwas, womit ich viel zu tun habe, denn wir wollen Patientinnen und Patienten einbinden in die digitale Medizin, sozusagen in unser digitales Universum, weil sie dadurch einen ganz anderen Stellenwert bekommen und sich auch mit uns ganz anders in Verbindung setzen können. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt.
Dann beschäftigen mich natürlich immer wieder Projekte der künstlichen Intelligenz, zum Beispiel unser Förderprojekt SmartHospital.NRW, unterstützt vom Wirtschaftsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. Da entwickeln wir auf der einen Seite Prototypen der künstlichen Intelligenz, aber auch – ganz wichtig für uns – Transformation Change Modelle. Damit wollen wir insbesondere die kleineren Kliniken darin unterstützen, die digitale Transformation und auch die Einbettung von künstlicher Intelligenz weiter voranzutreiben, denn es muss ja nicht jeder das Rad neu erfinden.
Ganz wichtig ist auch die Öffentlichkeitsarbeit, also nicht nur unsere aktiven Patienten, sondern auch potenzielle Patienten immer einzubinden, sie mit den Möglichkeiten und Limitationen der KI vertraut zu machen, aber auch den empathischen Aspekt daran weiter zu vertiefen. Denn es gibt ja dieses Gefühl: wir werden dann quasi von einer Blackbox behandelt. Diese Ängste müssen wir auch thematisieren.
Und schließlich bin ich viel unterwegs, auf der einen Seite mit dem Interop Council, aber auch mit der nationalen Digitalstrategie des Gesundheitsministeriums. Letzte Woche war ich auch international unterwegs, am Klinikum in Aarhus. Außerdem habe ich im Moment praktisch täglich mit Israel, mit dem Sheba Medical Center, der größten Universitätsklinik dort, zu tun, denn wir haben ein Memorandum of Understanding und arbeiten eng zusammen.
Wir haben eben schon gehört, womit Sie sich letzte Woche beschäftigt haben. Jetzt nochmal allgemeiner gefragt: Wie sieht Ihr Alltag aus?
Einen normalen Alltag gibt es eigentlich nicht. Es geht ja um Innovation. Und Innovation ist immer ein Teamsport. Das ist unser Hauptfokus, denn gerade Digitalisierung bindet wirklich alle Professionen ein und wir brauchen diese Expertise. Früher war die Medizin sehr hierarchisch bestimmt und alles, was in der Versorgung geschah, war durch die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen dominiert.
In der digitalen Medizin muss man anders arbeiten. Da muss man die Kompetenzen und das Domänenwissen von ITlern, von der Medizintechnik, von der Pflege einbeziehen. Man muss auf Augenhöhe arbeiten, denn es geht dabei um vieles, was in der Grundkompetenz der Mediziner nicht enthalten ist. Einen neuen Prozess kann ich nur strukturieren, wenn ich die Themen und Kompetenzen der anderen kennenlerne. Deswegen ist es so wichtig, sich wirklich als Team zusammenzusetzen, zu diskutieren, die Möglichkeiten auszuloten und dann innovative Dinge, sei es in der digitalen Medizin, der Telemedizin oder bei Anwendungen der künstlichen Intelligenz, auszuprobieren und zu erforschen.
Wie gehen Sie bei Ihren Projekten vor? Gibt es immer konkrete Zielsetzungen mit Deadline, oder schauen Sie eher, was möglich ist, und passen sich so der Realität an?
Das ist entscheidend davon abhängig, wer etwas anstößt. Sie können sich vorstellen, dass die Medizin in den verschiedenen medizinischen Fachbereichen sehr spezielle Anwendungen entwickelt. Um ein Beispiel zu nennen: die Hals-Nasen-Ohren-Medizin braucht eine Software, die in der Lage sein muss, fototechnisch Schwingungen von Stimmbändern aufzunehmen oder akustische Signale zu verarbeiten. Das ist natürlich nicht übertragbar auf andere klinische Fachgebiete, die völlig andere Anforderungen haben. Gleichzeitig aber muss es prinzipiell interoperabel sein. Diese technische und prozessuale Interoperabilität ist der Kern des Ganzen. Idealerweise sind die Schnittstellen auch kompatibel und man kann dann auch mit anderen Kliniken kooperieren, aber auch mit minimalem Aufwand mit der elektronischen Patientenakte arbeiten.
Was sehen Sie als die drei, vier großen Säulen, die am Anfang der Digitalisierung einer Klinik stehen, hin zum Smart Hospital. Sie haben vorhin schon die kleineren Krankenhäuser erwähnt, die Sie unterstützen wollen. Wo fängt man da an?
Und warum ist die Rolle eines Chief Transformation Officer dabei so wichtig?
Zuerst muss man eine Status-Analyse machen, um die technische Infrastruktur zu überprüfen. Wir haben dafür einen KI-Readiness-Check entwickelt, der verschiedene Bereiche, also die Technik als solches, die Datenstruktur, aber auch den ganzen Komplex Datenschutz und Datensicherheit abfragt. Diese Grundlagen müssen vorhanden sein.
Außerdem muss eine Aufbauorganisation in einer Klinik da sein. Es müssen Stellen benannt werden, zum Beispiel eine Stabsstelle Digitale Transformation oder ein Chief Medical Information Officer. Das kann auch zunächst irgendwo als Aufgabenbereich dazukommen, aber die Zuständigkeit muss definiert werden, sonst wird es nicht funktionieren.
Nach dieser Analyse ist eine wichtige Frage: Habe ich eine IT-Strategie? Dann kann man sich verschiedener Tools bedienen oder Empfehlungen einholen, wie jetzt zum Beispiel bei uns, weil wir in diesem großen Förderprojekt Change Modelle entwickeln, die helfen, zu entscheiden, wie man dann weiter vorgeht.
Das ist aber nur die eine Seite. Genauso wichtig ist, dass man die Mitarbeitenden mitnimmt. Das Personal muss betrachtet und vielleicht geschult werden. Entscheidend bei jedem Change-Prozess – und das ist der Grund, warum das an der Universitätsmedizin Essen so gut funktioniert hat – ist der Vorstand. An der UME wurde der Weg des Smart Hospitals sogar durch den Vorstandsvorsitzenden initiiert. Der Vorstand muss komplett dahinterstehen und muss das wollen und fördern. Dann kann man auch an der Basis die Menschen mitnehmen und für diese kulturelle Transformation begeistern. Man muss also eine Vision schaffen.
Eine Uniklinik ist da ein bisschen wie eine Flotte, jedes Schiff, jede Klinik, hat einen eigenen Kapitän. Und vorne fährt der Vorstand als kleines Boot und gibt den Kurs vor. Dass zum Beispiel jedes Boot den gleichen Treibstoff verwendet, also die gleiche elektronische Patientenakte, die dann wirklich kompatibel ist.
In meiner Rolle als CTO springe ich von Boot zu Boot, um in diesem Bild zu bleiben, und spreche mit dem Maschinenraum genauso wie mit den Passagieren und der Besatzung. Ich schaue, in welche Richtung wir fahren, wo wir ankern können, und welche Untiefen es gibt oder welche Winde aufkommen, von denen wir vielleicht profitieren können.
Was bedeutet die Digitalisierung bzw. der Wandel zum Smart Hospital für die Mitarbeitenden? Was verändert sich in deren Alltag? Und wie nehmen die Mitarbeitenden die Transformation an?
Wir haben als Uniklinik den Vorteil, dass Mitarbeitende an universitären Einrichtungen immer einen sehr jungen Altersdurchschnitt haben. Digitalisierung im Alltag hat uns alle ereilt, und die jüngere Generation ist damit sehr vertraut.
Und Menschen, die im Versorgungsbereich in einer Klinik arbeiten, haben genau dieses Thema gewählt, das heißt, sie wollen mit Menschen arbeiten. Da kann Digitalisierung entlasten, kann Effizienz schaffen, kann aber auch Transparenz ermöglichen, auch zum Beispiel in der Kommunikation mit dem niedergelassenen Bereich. Man hat dann auch mehr Zeit für die Patienten, was ja der Grund ist, warum die meisten Menschen, die dort arbeiten in den ärztlichen oder auch pflegerischen Beruf eingestiegen sind.
Das muss man dann auch transportieren, dass es nicht darum geht, Personalstellen abzubauen, sondern darum, empathische Medizin zu ermöglichen und den Menschen dafür Freiraum zu geben. Um das zu kommunizieren, haben wir eine Reihe von Medien, die wir an unseren Mitarbeitenden verschicken, u.a. Printmedien. Wir sind auf Social Media. Und wir haben direkte Ansprechpartner, so dass mir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Missstände zutragen können. Ich beantworte jede Mail – ich kann die Problematik nicht immer lösen, aber ich kann sie mir im Detail ansehen und vor allem den Leuten zeigen, dass ich mich um die Probleme kümmere und den Hintergrund erklären. Eventuell wollten wir in eine bestimmte Richtung, aber es hat nicht ganz so funktioniert, wie es gedacht war.
Das hat auch wieder mit dieser Interoperabilität zu tun. Leider kommen ja die Krankenhausinformationssysteme aus einer Zeit, wo man damit abgerechnet hat. Heute aber wollen wir ganz andere Dinge damit machen. Würde man heute ein KIS neu einführen, dann würde man ganz andere Begebenheiten abdecken wollen als zu der Zeit, als man es tatsächlich eingeführt hat – vor über zehn Jahren.
Das erleben wir im Alltag auch als frustrierend. Man hat eine neue Software oder es wird eine neue Version aufgespielt, und obwohl die Hardware, die wir benutzen, noch gar nicht kaputt ist, ist sie häufig zu alt, um diese neue Software zu verarbeiten. Bei 10.000 Mitarbeitenden, 70.000 stationären und 300.000 ambulanten Patienten kann man natürlich nicht sofort wieder alles neu anschaffen. Das geht schon im Sinne der Nachhaltigkeit nicht.
Was ändert sich für die Patienten im Zuge der Digitalisierung bzw. des Wandels zum Smart Hospital? Welche Rückmeldung bekommen Sie von Patienten? Mit welchen Veränderungen haben die Patienten eher Schwierigkeiten?
Unsere Patientinnen und Patienten gehören natürlich eher zur älteren Generation. Insofern gibt es da durchaus Unterschiede in der Kommunikation. Wir haben für die Patientinnen und Patienten auch eine Zeitschrift. Und wir haben uns tatsächlich die Mühe gemacht und einen Beirat für Digitalisierung und KI gegründet, der nicht aus aktiven Patient*innen besteht, sondern aus Bürger*innen. Dadurch können wir die ganze Bandbreite der Bevölkerung abdecken – von 18 bis 70, verschiedene Geschlechter, aber auch unterschiedliche kulturelle und Migrations-Hintergründe. Diesem Beirat stellen wir neue Projekte immer vor und versuchen, möglichst viel Feedback einzuholen.
Prinzipiell hat die Pandemie der digitalen Medizin sehr geholfen, weil auch der ganz normale Bürger nicht nur gesehen hat, dass wir hinterherhinken in Deutschland, sondern auch, dass es gar nicht zum eigenen Schaden ist, wenn man sich digital irgendwo einloggt, wenn man digitale Daten übermittelt, dass man zum Beispiel wie bei der Corona-Warn-App gar keine persönlichen Daten überträgt und der Datenschutz wirklich gewährleistet ist. Dass man von der Digitalisierung profitieren kann, das haben die Menschen dadurch viel mehr verstanden als vorher. Dennoch muss sich in der ganzen Struktur, wie wir mit Daten und Gesundheitsdaten umgehen, noch einiges ändern in Deutschland.
Digitalisierung in Krankenhäusern – das ist ja ein Schlagwort, mit dem vieles gemeint sein kann: Angefangen damit, dass Papier eingespart wird, bis hin zur Gewinnung wertvoller medizinischer Erkenntnisse mit KI. Vielleicht haben Sie noch ein ganz konkretes Beispiel, wo die Digitalisierung für Mitarbeitende und auch für die Klinik einen Vorteil bzw. eine Erleichterung bringt?
Durch die Digitalisierung haben wir wahnsinnig große Datenmengen. Ich habe zum Beispiel elf Jahre in der Radiologie gearbeitet, und wenn man Bilder befundet im ärztlichen Dienst, gibt es diesen menschlichen Fehler, der auch dadurch begründet ist, dass man beispielsweise bei Messungen selbst an digitalen Bildern sehr ungenau arbeitet. Als Beispiel nehme ich gern die Vermessung eines Tumors. Man versucht dann, ein geometrisches Modell – beispielsweise eine Kugel – für eine Rechnung heranzuziehen und auf dieser Basis ein Volumen zu berechnen. Das Ergebnis hängt aber stark davon ab, wie der Patient gelegen hat und wie die Schichten, z.B. im CT, da hindurch gehen. Das heißt, ich habe eine grobe Ungenauigkeit in der Auswertung, die für den Kliniker aber wesentlich ist, wenn er beurteilen möchte, ob eine Therapie erfolgreich war. Auf dieser Basis werden ja Therapie-Entscheidungen getroffen.
Die KI in der Bildauswertung ist mittlerweile sehr hoch ausgereift. Das ist natürlich toll, wenn die KI im Bruchteil einer Sekunde sagen kann, wie genau das Volumen eines solchen Tumors ist und ob es zu- oder abgenommen hat. Und wenn ich dann, wie wir es auch machen, nicht nur Bilddaten, sondern zusätzlich Labordaten und auch klinische Symptome miteinander verknüpfen kann, dann ist das eine sehr hilfreiche Entscheidungsunterstützung. Die brauchen wir.
Das bedeutet aber nicht, dass die KI entscheidet. Das hat also nichts mit einer Blackbox zu tun, sondern es ist etwas, was garantiert in den nächsten Jahren in den Leitlinien Berücksichtigung finden wird. Denn sobald die medizinische Evidenz für die Überlegenheit eines Verfahrens vorliegt, müssen wir das in den Leitlinien und in der klinischen Anwendung berücksichtigen. Das ist einfach nur eine Frage der Zeit. So wie damals, als das CT oder das MRT erfunden wurde – man hat den diagnostischen Vorteil gesehen und dann kam auch rasch die breite Anwendung.
Das Thema Künstliche Intelligenz nimmt aktuell in der Gesellschaft immer mehr Raum ein. Inwiefern kann KI den Klinikalltag erleichtern? Worauf kommt es hier im Speziellen für kleinere Kliniken an, damit sie den Anschluss halten? Die Radiologie hatten Sie schon genannt als Fachgebiet, in dem KI bereits gut funktioniert. Sehen Sie da noch andere Bereiche?
Wichtig ist nicht nur, dass etwas gut funktioniert, sondern auch, dass ein entsprechend zertifiziertes Medizinprodukt daraus wird. Wir haben ein eigenes Institut für künstliche Intelligenz in der Medizin mit bereits fünf Professuren. Wir sind eine forschende Einrichtung und entwickeln auch eigene KI. So etwas können die kleineren Krankenhäuser natürlich nicht machen.
Aber die Zulassung als Medizinprodukt ist eine Minimalvoraussetzung, um ein Produkt in den Umlauf zu bringen. Und dann muss genauso wie bei anderen technischen Neuerungen das Personal entsprechend eingeführt und geschult werden. Wir untersuchen zum Beispiel im Rahmen von Transformationsmodellen, ob eine eigene Qualifizierung für das Personal notwendig ist. In Krankenhäusern gibt es ja Mitarbeitende, die Jahrzehnte dort bleiben. Für jüngere Kolleg*innen, egal in welchem Beruf, ist die Schwelle niedriger, sich weiterzubilden, vielleicht sogar berufsbegleitend ein Bachelorstudium „Pflege und Digitalisierung“ zu machen, wie die FOM es in Kooperation mit der UME anbietet. Der Fokus muss aber auch auf den älteren Mitarbeitenden liegen. Für diese Gruppe ist es wichtig, dass man Module anbietet, einzelne Fächer, die man belegen kann, ohne den Druck eines kompletten Studiums. Es muss eher niedrigschwellig sein, und dann versuchen wir immer wieder, die Leute da heranzuführen. Das ist, glaube ich, auch vor dem Hintergrund sehr wichtig, dass die Welt sich ändert und Digitalisierung überall Einzug hält –ob ich ein Bahnticket buche oder es künftig das 49-Euro-Ticket nur als digitales Ticket geben soll.
Die Künstliche Intelligenz führt uns zum „Smart Hospital“, das zu werden die UM Essen ja schon früh als Ziel ausgerufen hat. Was macht ein „Smart Hospital“ aus? Sehen Sie es als eine Weiterentwicklung oder als den Endzustand der Digitalisierung, den Sie anstreben?
Das Smart Hospital ist der Weg, wie wir diesen Kulturwandel, den wir erleben, eingebettet in nationale Entscheidungen und technische Entwicklung beschreiten, um wirklich empathische Medizin umzusetzen. Unser Vorstandsvorsitzender Professor Werner, der wirklich ein ganz toller, visionärer Arzt ist, hat sich 2015 bereits auf den Weg gemacht. Das Smart Hospital sollte wie eine zentrale Steuerungseinheit sein, die den Patienten auf seinem Weg begleitet. Die Menschen müssen wir mitnehmen, die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen genauso wie die Patient*innen und die Bürger*innen. Patienten sind ja auch nicht nur hier im Krankenhaus, sondern auch zu Hause, und auch da können sie tatsächlich z.B. per Telemedizin verantwortlich mit interagieren.
Idealerweise könnten wir in Deutschland wirkliche Präzisionsmedizin machen. Die Daten, die wir erheben, sind sehr, sehr gut, aber wir haben einfach zu wenig Zugriff auf Daten aus anderen Sektoren und es mangelt an Interoperabilität. Eine Erkrankung beginnt ja nicht im Krankenhaus und hört auch nicht dort auf. Wirklich empathische Präzisionsmedizin, aber auch präventive Medizin anzubieten und die individuellen Symptome von Patienten aufzugreifen, gelingt uns nur, wenn wir interoperabel Daten zusammenführen können. Dazu ist Input von allen Seiten nötig, nicht nur im Sinne eines Kulturwandels, sondern als nationale Strategie.
Gerade weil das Thema Digitalisierung so groß ist, macht es das für Kliniken schwer greifbar, die aktiv werden wollen. Welche Fallen gibt es, in die Kliniken tappen können, wenn sie sich bemühen, die Digitalisierung voranzutreiben? Es gibt sicher viele Anbieter und Systeme auf dem Markt, die alle etwas verkaufen wollen – wie finden Kliniken die richtigen externen Partner, um die Digitalisierung voranzutreiben?
Tatsächlich haben wir hier in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen, auch europäischen Ländern eine geringe zentrale Steuerung. Dadurch wird begünstigt, dass proprietäre Systeme entwickelt werden, mit denen eine Gewinnerzielungsabsicht seitens der Industrie verbunden ist. Das ist wie bei den Smartphones: ich entscheide mich für Android oder Apple, und dann besteht Kompatibilität mit Zubehör und Anwendungen des einen oder des anderen Systems. Das ist etwas, was wir versuchen, auf dem nationalen Weg auch durch das Interop Council zu glätten. Denn es kann nicht sein, dass immer wieder neue Schnittstellen entwickelt werden müssen oder dass alle nach unterschiedlichen Standards arbeiten. Wir müssen da verbindlich die gesetzlichen Vorgaben der Interoperabilität umsetzen und einen durchgängigen Datenpfad auch für Bürgerinnen und Bürger, Patientinnen und Patienten ermöglichen.
Ein Beispiel: Es gab 2022 einen der ersten abgeschlossenen Arbeitskreise des Interop Councils zu onkologischen Daten. Dort gibt es fünf Formate, in denen das Geburtsdatum des Patienten in die onkologischen Daten eingeht. Wenn man dagegen zentral festlegen würde, wie das Format für das Geburtsdatum auszusehen hat, dann könnten das auch alle lesen. Und hier geht es nur um ein Geburtsdatum. Je mehr es um Symptome oder Therapie geht, desto komplexer wird es. Dass das dann ein gewisser Standardisierungsaufwand ist, will ich gar nicht bestreiten, vor allem wenn man zudem internationale Nomenklaturen verwendet. Aber das Geburtsdatum, dafür hätten wir schon vor 30 Jahren ein Format festlegen können und damit Wiederverwendbarkeit von Daten, bessere Nutzbarkeit für die Versorgung und eine erhöhte Patientensicherheit gewährleistet.
Wenn wir das gesamte Gesundheitswesen betrachten: Manchmal hat man das Gefühl, das Gesundheitswesen müsste regelrecht zur Digitalisierung gedrängt werden, zum Beispiel durch Gesetze wie das Krankenhauszukunftsgesetz. Was sind die Gründe, warum die Digitalisierung bei uns in Deutschland insgesamt recht langsam vorangeht? Von welchen Seiten gibt es Widerstand?
Da sind vor allem die Kosten – Digitalisierung ist teuer. Alles, was wir momentan investieren, zum Beispiel in den Aufbau eines Patientenportals, um die Patienten in dieses digitale Spielfeld hineinzuholen, ist teuer. Ich kann im Wesentlichen für den stationären Bereich sprechen, weil ich an einem Krankenhaus angestellt bin und weil das mein Kernschwerpunkt ist. Es gilt aber natürlich für alle Bereiche der GEsundheitsversorgung, wenn man entsprechend digital arbeiten möchte.
Die Finanzierung der Gesundheitsversorgung – da erzähle ich Ihnen ja nichts Neues – erfolgt auf der einen Seite über die Krankenkassen und für uns als Krankenhaus dann noch über die Länder. Das deckt aber natürlich bei weitem nicht das ab, was man gerne investieren würde. Daher muss man, genau wie auch beispielsweise bei Großgeräten, wirklich strategische Entscheidungen treffen. Da hat wieder der Vorstand eine wichtige Rolle, er muss das Thema vorantreiben und diese Entscheidungen treffen. Ich kann beraten und sagen, ob etwas in unsere Systemlandschaft passt oder nicht, Vorteile und Nachteile abwägen, und Folgekosten bestimmen. Und dann muss der Vorstand darüber entscheiden.
Das Thema Datenschutz wird häufig als Hindernis auf dem Weg zur Digitalisierung gesehen – andererseits ist es enorm wichtig, gerade bei so etwas Sensiblem wie Patientendaten. Wie gehen Sie mit dem Thema um?
Es ist uns total wichtig, diese medizinjuristische Komponente und auch den Datenschutz umfänglich aufzugreifen. Zum Beispiel waren wir in der ersten Periode der Medizininformatik-Initiative das einzige Konsortium, das im Datenintegrationszentrum eine Juristin mit einer vollen Stelle angestellt hat. Wir haben außerdem eine eigene Stabsstelle für Data Governance, wo Datenzugriffsmöglichkeiten, Datenschutzkonzepte und Fragen wie: Wer darf welchen Zugriff beantragen? Wie gehe ich mit den Daten um? geklärt werden.
Bezüglich Datenschutz in der Medizin muss man ganz ehrlich sagen, dass ein Haupt-Problem der Föderalismus ist. Im Land Nordrhein-Westfalen haben wir kein besonderes Problem. Aber nationale Projekte wie der sogenannte Broad Consent der Medizininformatik-Initiative, der zweieinhalb Jahre gebraucht hat, bis er durch alle Landes-Datenschutzbehörden und schließlich durch den Bundesdatenschutz genehmigt war – eine Katastrophe. Am Ende kommt dabei ein 8-seitiges Dokument heraus, was der Patient, die Patientin überhaupt nicht mehr verstehen kann.
Dabei verstehe ich durchaus die Schwierigkeit. Ich habe lange im Bereich klinischer Studien gearbeitet. Bei einer Studien-Einwilligung muss ich den Patienten darüber aufklären, was das Ziel der Studie ist, was ich für die Zielerreichung benutze, was genau meine Endpunkte sind und wann ich welche Materialien und Informationen vernichte. Bei den datengetriebenen Studien, insbesondere bei KI, weiß ich das zum Teil nicht. Ich weiß nicht, welche neuen Algorithmen entstehen und man braucht häufig einen relativ langen Beobachtungszeitraum, also eine Zeitreihe. Manchmal entstehen so Möglichkeiten, Zusammenhänge zu erkennen, von denen man vorher nichts wusste. Die Verknüpfung von krankheitsspezifischen Symptomen und anderen, möglichen, datengetriebenen Inhalten ist wichtig um die KI entsprechend zu testen und zu trainieren. Aber welche Parameter dann genau und in welchem Zeitrahmen eine Rolle spielen werden, das weiß man zumeist nicht genau, also kann man den Patienten schwierig zielgerichtet informieren.
Vor knapp zwei Jahren konnten wir mit der Ruhr-Universität-Bochum eine Förderung des Gesundheitsministeriums Nordrhein-Westfalen einwerben, um medizinjuristische Fragen zur Disease Interception zu bearbeiten. Das ist ein Konzept, wo man schon bevor eine Erkrankung klinische Symptome ausprägt, erkennt, dass diese Erkrankung potenziell entstehen kann und dann vor Erkrankungsausbruch eingreift. Ein Beispiel wäre hier die genetische Disposition für bestimmte Brustkrebs-Tumoren, wo man dann vor der Entstehung zusammen mit einer entsprechend genetisch vorbelasteten Frau die Entscheidung treffen könnte, die Brust entfernen zu lassen, obwohl noch gar kein Tumor vorhanden ist, weil man weiß, dass ein erblich bedingtes erhöhtes Risiko besteht.
In Zukunft könnte man durch mögliche KI-basierte neue Biomarker erkennen, dass man ein sehr hohes Risiko hat, eine bestimmte Erkrankung zu entwickeln. Und dann könnte man eingreifen, bevor diese Erkrankung überhaupt entwickelt wird. In dem Förderprojekt des Gesundheitsministeriums NRW wird untersucht, ob das dann eine Leistung des SGB V sein kann – oder sogar sein muss. Eventuell muss es dafür eine eigene Kategorie geben, denn es ist ja keine präventive oder kurative Maßnahme im klassischen Sinne.
All dies sind wichtige Themen, wo wir uns in der Verantwortung sehen, die Medizin jetzt nicht allein dastehen zu lassen, sondern auch wirklich alle Aspekte inklusive der ethischen Fragen zu untersuchen. Das bedeutet auch, dass es keine Verzerrung, zum Beispiel durch Gender-Bias geben darf. Um all diese Verantwortlichkeiten muss man sich kümmern. Man kann nicht einfach sagen: diese KI ist jetzt ein Medizinprodukt, das setze ich jetzt ein. Proaktiv sich über die Implikationen Gedanken zu machen ist hier sehr wichtig.
Die UM Essen ist ja aktuell auch auf dem Weg hin zum Green Hospital, auch hier ist man früh dran. Können Sie vielleicht etwas ausführen, inwiefern die Digitalisierung auch bei der Transformation hin zum Green Hospital eine wesentliche Rolle spielt?
Bei diesem großen Themenkomplex Green Hospital haben wir uns auch sehr frühzeitig auf den Weg gemacht. Da sind große Umstellungen nötig, weil die Medizin bisher in einem Elfenbeinturm aus Hygiene, Einmal-Verpackung und anderen, nicht sehr nachhaltig arbeitenden Sphären wohnte. Das müssen wir aufbrechen, alles noch einmal unter die Lupe nehmen und schauen, wo z.B. Recycling möglich ist. Bei der Speiseversorgung probieren wir jetzt zum Beispiel im Sinne von Planetary Health verschiedene vegane Gerichte bei den Mitarbeitenden wie bei den Patienten aus und erfragen das Feedback.
Die größten Klimaeffekte haben wir im Gesundheitswesen durch verschiedene Faktoren im Krankenhaus. Sei es durch schädliche Narkosegase oder auch einfach durch die Tatsache, dass man im Krankenhaus andere Müllkategorien hat. Es fällt also nachteilig ins Gewicht, dass der Patient in stationärer medizinischer Behandlung ist. Hier kann die Digitalisierung die Aufenthaltsdauer verkürzen, kann Redundanz, z.B. bei Laboruntersuchungen abschaffen und Abfall verringern helfen – so ist der Einsatz von Digitalisierung prinzipiell im Sinne der Nachhaltigkeit.
Mobilität von Patientinnen und Patienten ist ebenfalls ein Thema. Wenn die nicht mehr zu uns kommen müssen, weil wir sie per Telemedizin kontaktieren können, weil sie mit uns digital Laborwerte austauschen oder sich über eine Videosprechstunde melden können, dann sind das alles Aspekte, die auch proaktiv im Sinne der Nachhaltigkeit wirken.
Welche revolutionären Dinge sehen Sie, die die Digitalisierung im Gesundheitswesen möglich machen kann, wenn wir einmal 10 Jahre in die Zukunft blicken?
Eine echte Revolution in dem Sinne sehe ich nicht. Der medizinische Behandlungserfolg beruht auf dem empathischen Miteinander von Arzt, Ärztin und Patient, Patientin. Das wird sich nie durch Technik ersetzen lassen. Durch die Technik kann ich in meiner diagnostischen Entscheidung unterstützt werden und auch in der Therapie, vielleicht auch in der Verantwortungsübernahme durch den Patienten oder die Patientin. Das ist unser Ziel, durch Digitalisierung und KI eine empathische Präzisionsmedizin zu ermöglichen, die auch präventiv wirken kann.




