Interview mit
Prof. Dr. med. Henriette Neumeyer

Seit Juni 2022 ist Prof. Dr. med. Henriette Neumeyer stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Sie leitet auch den neuen Geschäftsbereich „Krankenhauspersonal und Politik“. Wie die Digitalisierung medizinische Fachkräfte entlasten kann, ist nur eines der vielen Themen, die Prof. Dr. med. Neumeyer beschäftigen und die sie in der Politik platziert. Ein Gespräch über Reformen und das Krankenhaus der Zukunft.

Interview: Dr. med. Gudrun Westermann, Fotos: Gene Glover

„Durch Datenfreigabe sichere ich mir als Patient oder Patientin einen Behandlungsvorteil.“

Frau Prof. Neumeyer, Sie haben einmal gesagt, dass Sie im ­Gesundheitswesen übergeordnet etwas bewegen wollten, deshalb einen MBA gemacht haben und schließlich bei der DKG gelandet sind. Jetzt sind Sie seit mehr als einem Jahr in einer der höchsten Funktionen der DKG im Amt. Was konnten Sie bereits anstoßen? 


Generell geht es mir bei der Arbeit für die DKG darum, ein Bewusstsein für die Situation der Krankenhäuser und von deren Mitarbeitenden zu schaffen. Die Pandemie hat Spuren hinterlassen. Im Personalbereich haben wir uns daher für eine bedarfsgerechte Personalausstattung eingesetzt und das Thema mit unseren Partnern ver.di und DPR vorangetrieben. Außerdem konnten wir für den eiskalten Strukturwandel, also die Bedrohung von Versorgungsangeboten durch Unterfinanzierung, sensibilisieren. Die Kampagne „Alarmstufe Rot“, die wir 2022 gestartet haben, und die damit verbundene Aufklärungsarbeit waren dabei ein Meilenstein. Wir konnten dafür sorgen, dass die Politik sich dessen angenommen hat, müssen aber weiter am Ball bleiben. Gleichzeitig haben wir uns durch unsere Auswirkungsanalyse für die Krankenhausreform kon­struktiv in den Diskurs eingeschaltet, auch um die regionalen Besonderheiten in Deutschland in den Blick zu nehmen. 


Zur geplanten Gesundheitsreform: Die DKG hat die Reform ja scharf kritisiert. Was genau ist das Problem, wenn sie so wie geplant umgesetzt würde? 


Seit wir die Auswirkungen analysiert haben, sehen wir, dass die Reform eine deutliche Reduktion von Standorten über die Fläche bedeuten würde, was viele Menschen beunruhigt hat. Uns geht es darum, die Balance von wohnortnahem Zugang zu Versorgungsangeboten mit noch höheren Spezialisierungsgraden als heute zu ermöglichen.


Sie betonen, dass die DKG nicht nur kritisieren möchte. Sie haben einen alternativen Vorschlag für eine Reform erarbeitet. Was sind die größten Unterschiede?


Der Zugang zu Gesundheitsangeboten mit adäquater Wartezeit ist eine von der WHO geforderte Qualitätsdimension, ebenso wie Versorgungsgerechtigkeit, also, ob ich unabhängig von meinem sozioökonomischen Status Versorgung erhalte, wenn ich sie brauche. Wir werben daher dafür, die Bedarfsgerechtigkeit mehr in den Blick zu nehmen und jetzt die Versorgungsangebote zu stützen. Insgesamt muss die Politik den Bürgerinnen und Bürgern klar erklären, welche Versorgungsziele erfüllt werden sollen, und dazu gehört neben Strukturqualität eben auch der Zugang. Daher ist es uns zum einen ein Anliegen, die Kopplung von Leistungsgruppen und Leveln aufzuheben, da diese zu einer unverhältnismäßig starken Ausdünnung von wichtigen Versorgungsangeboten geführt hätte. 

Zum anderen muss das durch die Pandemie und den Ukrainekrieg verursachte Finanzierungsdefizit mit einem Vorschaltgesetz schnell und nachhaltig behoben werden. Nur so kann ein guter Boden für eine Reform bereitet werden ohne vorherige Strukturbereinigung am Bedarf vorbei. Die Basis der Vorhaltefinanzierung muss es sein, Versorgung im Grundsatz finanziell so abzusichern, dass in jeder Lebensrealität, ob Stadt oder Land, gleichwertiger Zugang zu Versorgung herrscht. Wir gehen davon aus, dass die reine Umschichtung innerhalb des Fallpauschalensystems nicht ausreichen wird und zusätzliche Mittel entlang der Notfallstufen als Komplexitätsindikator notwendig sind. Wenn jetzt zudem die Versorgungslandschaft umgebaut werden soll, müssen die anstehenden Investitionen in Infrastruktur und Medizintechnik so finanziert werden, dass die Bürgerinnen und Bürger auch den Mehrwert sehen. Wichtig ist schließlich die Frage, wie genau die ambulante Transformation und die sektorenübergreifende Planung gedacht werden können. Wenn Krankenhäuser Leistungen aus dem vertragsärztlichen Bereich in der ambulanten Notfallversorgung mit absichern, muss das auch für die Versorgung planerisch mitgedacht und langfristig in der Vergütung berücksichtigt werden.


Sie setzen sich schon länger für einen Wandel hin zu einer integrierten Gesundheitsversorgung ein, bei der verschiedene Akteure enger und besser als heute zusammenarbeiten. Was könnte dadurch verbessert werden?


Die integrierte Versorgung bezeichnet ein umfassendes Konzept, bei dem verschiedene Gesundheitsdienstleister zusammenarbeiten, um eine nahtlose und koordinierte Versorgung für Patienten sicherzustellen. Dies umfasst die Verbindung medizinischer Behandlung, der Pflege und unterstützender Dienste, um die Effizienz und Qualität der Versorgung zu verbessern. Durch engere Zusammenarbeit der Akteure in der integrierten Gesundheitsversorgung könnten wir Effizienzsteigerungen, bessere Qualität der Patientenversorgung und höhere Patientenzufriedenheit erreichen. Durch Case- und Care-­Management, z. B. durch spezialisierte Schlaganfall-Lotsen, können schon jetzt individuelle Bedürfnisse berücksichtigt und reibungslose Übergänge zwischen verschiedenen Versorgungsbereichen ermöglicht werden. Dies ist jedoch neben der Abschottung der Sozialgesetzbücher und datenschutzrechtlichen Fragen leider zu häufig eine Vergütungsfrage, obwohl hier ein wirklicher Mehrwert liegt. Den Gedanken mehr auf Versorgungsprozesse und -ziele zu richten, so wie es die integrierte Versorgung sektorenübergreifend ermöglicht, und die genannten Hindernisse zu bearbeiten, würde auch der Reformdebatte Schub geben.


Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen ist heute schon ein riesiges Thema – in Zukunft wird sich die Situation noch verschärfen. Wie ist hier Ihre Strategie? Was fordern Sie von der Politik und von den Trägern der Kliniken?


Um den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen anzugehen, haben wir eine klare Strategie: Zum einen arbeiten wir operativ und mit Bildungseinrichtungen für die Ausbildung von Gesundheitsberufen zusammen, unterstützen die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und geben Empfehlungen aus für eine qualitative Ausbildung. Zudem setzen wir uns für die Attraktivität der Gesundheitsberufe ein, z. B. für einen ausgewogenen Mix aus Qualifikationen in der Pflege und die Stärkung der akademischen Ausbildung.

Mit den gesammelten Daten und dem Feedback unserer Mitglieder und aus unserem Netzwerk entwickeln wir konkrete Positionen und Forderungen an die Politik, um die Personalpolitik in Krankenhäusern aktiv mitzugestalten und zu unterstützen. Auch verstehen wir uns als Dialogplattform. Dringend erforderlich ist es, bürokratische Dokumentationsanforderungen an der Stelle zu reduzieren, wo sie keinen medizinischen Mehrwert schaffen. Denn Gesundheitsfachkräfte in den Krankenhäusern dürfen keinen „Bürokratie-Burn-out“ erleiden.


Wie kann die Digitalisierung helfen, den Fachkräftemangel zu entschärfen?


Die Digitalisierung kann einen wesentlichen Beitrag leisten, um den Fachkräftemangel zu entschärfen. Es ist jedoch wichtig, dass die Digitalisierung in die Arbeitsprozesse integriert wird und nicht als zusätzliche Belastung wahrgenommen wird. Tatsächliche Entlastung durch Digitalisierung wird erlebbar, wenn sie durch die Berücksichtigung der Erfahrungen und Rückmeldungen der Nutzer die Arbeitsprozesse erleichtert und mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten schafft. Auch kann Remote-Arbeit für medizinische Fachkräfte ein Attraktivitätsfaktor sein. Wir sprechen häufig von Telemedizin und KI, aber bereits heute sind manche medizintechnischen Geräte remote-steuerungsfähig. Auch hier sind eine Flexibilisierung und eine Unterstützung der immer rarer werdenden Fachkräfte möglich. Diese Potenziale müssen wir mehr in den Blick nehmen und auf allen regulatorischen Ebenen mitdenken, denn mit der digitalen Abbildung der bisherigen Überbürokratie ist nichts gewonnen und das Gesundheitswesen nicht konkurrenzfähig im Wettbewerb um Fachkräfte mit anderen Branchen. Eine weitere Maßnahme zur Entlastung des Personals ist die Förderung digitaler Kompetenz. Sowohl die nächste als auch die heutige Generation müssen befähigt werden, die Digitalisierung so zu erlernen, dass sie in der Lage sind, ihre eigenen Arbeitsprozesse kompetent umzugestalten. 


In welchen Bereichen kann die Digitalisierung den Krankenhäusern helfen, größere Probleme zu lösen und die integrierte Versorgung voranzubringen?


Die Digitalisierung bietet im Bereich der integrierten Versorgung die Möglichkeit für mehr präventive Gesundheitsversorgung in der Interaktion aller für den Patienten beteiligten Berufsgruppen. Statt erst zu reagieren, wenn ein Patient bereits einen krankheitsspezifischen Bedarf hat, können durch geringfügige Anpassungen, wie Coachings oder Medikamentenumstellungen, frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden, um eine Verschlechterung des Gesundheitszustands zu verhindern. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Herzinsuffizienz. Durch ein kleines Monitoring, das zu Hause durchgeführt werden kann, können wertvolle Parameter gewonnen werden, um frühzeitig Vorhersagen über den zukünftigen Zustand des Patienten zu treffen. Auf diese Weise kann man rechtzeitig intervenieren und „vor der Welle“ handeln, um Notfälle im ambulanten oder stationären Bereich zu vermeiden. Dieses proaktive Handeln müsste jedoch auch über die Vergütungssysteme belohnt werden.


Wie können wir uns das Krankenhaus der Zukunft vorstellen?


Das Krankenhaus der Zukunft wird mit Sicherheit Teil eines Netzwerks sein: Teil einer Struktur, die sowohl stationär versorgt als auch ambulant geöffnet ist – auch für fachärztliche Leistungen, damit in diesem Versorgungsnetzwerk der Patient regional gut versorgt und gut gesteuert ist. Es gibt aus der integrierten Versorgung in Deutschland auch schon Regionen und Projekte, die versuchen, diese integrierte Realität zu befördern. Das einzige Problem ist, dass wir aktuell den Sprung in die Regelversorgung noch nicht schaffen. Aber das ist definitiv das Ziel, um das es auf die Dauer gehen muss, gerade auch weil wir ressourcenschonender und weniger redundant arbeiten könnten.


Hat das Krankenhauszukunftsgesetz hier nicht – gezwungenermaßen – für eine gewisse Begeisterung bei den Kliniken gesorgt?


Das KHZG hat auf jeden Fall einen wichtigen Akzent gesetzt. Es hat verdeutlicht, dass digitale Transformation nicht umsonst zu haben ist. Das ist ein komplexer Change-Prozess, der finanziert werden will – durch Allokation von Zeit, aber auch durch Allokation von Geld in neue, digitale Infrastruktur. Insofern war das ein sehr wichtiger Schritt. Der starre Planungsrahmen wird dem sehr agilen Thema jedoch nicht gerecht. Technologien verändern sich rapide. Da ist es für die Krankenhäuser wichtig, flexiblere Möglichkeiten innerhalb der genehmigten Fördervolumen neu zu gestalten, um auf den technologischen Fortschritt in Echtzeit zu reagieren. 


Wie wichtig sind Datenschutz und Datensicherheit – und wo werden sie manchmal überbetont?


Man muss aus diesem Diskurs rauskommen: Datenschutz oder Gesundheit. Was sehr wenig diskutiert wird, ist die Qualität der Versorgung, die ich persönlich erhalten kann, wenn meine ÄrztInnen, meine PflegerInnen, meine TherapeutInnen meinen Krankheitsverlauf, meine Medikamente, Unverträglichkeiten oder Ähnliches schon kennen, wenn ich dort eintreffe. Das Wichtigste überhaupt ist, verständlich zu machen, dass ich mir durch meine Datenfreigabe einen Behandlungsvorteil sichere. Daher setzen wir uns auch für ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz ein, das das Arbeiten für unsere Mitarbeitenden leichter, aber auch die Behandlung sicherer macht. Gleichwohl ist es so, dass es in Deutschland eine gewisse Grundskepsis gibt. In anderen Ländern ist das Vertrauenslevel viel höher. Deswegen muss man transparente, verständliche Datennutzung kommunizieren, aber auch sagen: Es gibt eine Transparenz, wer auf deine Daten zugreift, und die Möglichkeit zum Opt-out. Auch Dänemark hat so eine Lösung. Dort merkt die Bevölkerung ganz klar: Es bringt mir so viel, die Daten im System zu haben, dass ich sie gar nicht mehr rausziehen möchte.


Die elektronische Gesundheitskarte und Dinge wie das E-Rezept sollen nun endlich bald kommen. Worauf kommt es an, damit solche Projekte ein Erfolg werden?


Wir haben leider vielfach Systeme eingeführt, die überhaupt noch nicht nutzbar und nutzbringend waren – auch ohne Rücksicht auf die belasteten Gesundheitsfachkräfte. Sobald es datensichere Lösungen gibt, die auf den Endgeräten der Patientinnen und Patienten gut funktionieren – also einfach zu bedienen und einzurichten sind –, werden wir diese auch nutzen, weil sie das Leben leichter machen.


Es gibt einen Mangel an IT-Experten, insbesondere solchen, die sich auch noch medizinisch auskennen. Wie lässt sich mehr IT-Personal mit medizinischer Expertise „heranziehen“?


Wir sehen einen großen Bedarf, sich genau an diesen Schnittstellen weiterzubilden. Aber wir müssen neben der Begeisterung des Nachwuchses auch auf die Berufserfahrenen setzen. Es gibt aktuell auf dem Arbeitsmarkt ja auch eine große Gruppe von qualifizierten Menschen, denen Wissen zur Verfügung gestellt werden muss, auch mit Angeboten, die nicht gleich ein mehrjähriges berufsbegleitendes Studium umfassen. Durch Digitalisierung gibt es hier ebenfalls Möglichkeiten einer anderen Wissensvermittlung – kürzer, prägnanter, etwa mit Video. 


Sie lehren an der Nordakademie in Hamburg und Elmshorn als Professorin. Eigentlich haben Sie mehr als genug zu tun – warum tun Sie sich das an?


Ich empfinde es als Privileg, das machen zu dürfen. Denn die Impulse, die ich bekomme, sind wirklich vielfältig. Wir haben Studierende mit unterschiedlichen Professionen; Gesundheitsberufe, IT-Spezialisten und Ökonomen – man bekommt ein ganz breites Bild, was sich diese Generation wünscht und womit sie sich befasst. Von unschätzbarem Wert ist meine Teilhabe an den Lebenswegen der Studierenden – das zu begleiten, macht mir wahnsinnig viel Freude. Da komme ich oft mit neuen Ideen raus.