Interview mit Prof. Dr. med. Sylvia Thun

Im Gesundheitswesen fallen Unmengen an Patientendaten an. Aber ihr Potenzial wird längst nicht ausgeschöpft. Ein Gespräch mit Prof. Dr. med. Sylvia Thun von der Charité über Interoperabilität und warum der Bund Ärztinnen und Ärzte unterstützen sollte.

Interview: Dr. med. Gudrun Westermann, Fotos: Gene Glover

„Standards helfen Fehler zu vermeiden“

Frau Prof. Thun, kommen wir zu einem Vorhaben, das Sie die letzten Jahrzehnte maßgeblich vorangetrieben haben: Sie plädieren dafür, medizinische Daten kompatibler zu machen. Warum ist das so wichtig? Oder anders gefragt: Welche Nachteile haben wir aktuell dadurch, dass die medizinischen Daten überwiegend uneinheitlich sind? Haben Sie da ein paar Beispiele?


Das Gesundheitswesen ist ja aufgeteilt in verschiedene Bereiche: den stationären Bereich, den ambulanten Bereich und dazu noch z.B. Reha-Kliniken. Jeder war schon einmal im Krankenhaus, danach beim niedergelassenen Arzt und beim Facharzt oder in der Reha, und jeder Bereich fragt wieder die gleichen Fragen. Dadurch entstehen Doppelaufgaben, die natürlich auch zeitliche Ressourcen binden.


Viel besser wäre es, wenn wir Zugriff hätten auf eine einheitliche Patientenakte der Bürger, um dann einerseits zeitlich, aber natürlich auch fachlich-inhaltlich effektiver zu arbeiten. Das würde bedeuten, nicht der Arzt oder der Patient wäre Träger der Informationen, sondern die Patienten wie auch die an der Behandlung beteiligten Menschen im Gesundheitswesen könnten diese Informationen alle einsehen.


Das ist der einfachste Anwendungsbereich, den jeder verstehen kann: dass man Informationen über seine Gesundheit, seine Erkrankung, die Medikamente und die Laborwerte denen zur Verfügung stellen muss, die sie benötigen.

Aber was passiert dann? Es ist ja nicht so, dass ich mir als weiterbehandelnder Arzt nur Arztbriefe durchlese, sondern ich versuche natürlich auch, ein umfängliches, ganzheitliches Bild des Patienten zu bekommen. Zugleich kann ich digitale Lösungen, die so genannten Clinical Decision Support Systems (CDS-Systeme) nutzen. Das heißt, es werden zum Beispiel Tools eingesetzt, mit denen ich mögliche Wechselwirkungen von Arzneimitteln besser verstehe und dadurch bessere Entscheidungen tätigen kann.


Darüber hinaus brauchen wir Forscher natürlich auch Daten, um zu forschen.

Was für mich als Patientin sehr wichtig ist, ist, dass ich auch selbst Entscheidungen treffen kann, dass ich selbst befähigt, sozusagen empowered werde. Ich habe die Daten vorliegen, die über mich irgendwo dokumentiert werden. Ich kann sie einsehen, und wenn ich das möchte, kann ich zum Beispiel über Hyperlinks weitere Informationen zu meinen Laborwerte lesen in einer Sprache, die mir angemessen ist und dann auch verstehen. Und ich kann Dienstleistungen anfordern, zum Beispiel einen Termin für die nächste Impfung.



Sie begleiten Institutionen dabei, die Vereinheitlichung der Daten voranzutreiben. Sie helfen Kliniken, die Grundlagen zu schaffen, um die FAIR-Prinzipien für wissenschaftliche Daten einzuführen. Mit FAIR lässt sich recht gut beschreiben, worauf es ankommt. Vielleicht können Sie die einzelnen Komponenten von FAIR einmal erläutern.


FAIR heißt im Bereich der Daten, dass man miteinander fair umgeht, also dass der, der die Daten erhebt, auch etwas davon hat. Das Akronym FAIR bedeutet übersetzt Findable – Daten sollen auffindbar sein, sie müssen irgendwo gespeichert sein, am besten natürlich in der Nähe des Patienten und der behandelnden Menschen. Sie müssen Accessible sein, also man muss auch Zugriff darauf haben. Das haben wir im Moment bei den Krankenhausinformationssystemen leider noch nicht, dass wir Zugriff auf unsere selbst eingegebenen Daten haben.


Die Daten müssen Interoperable sein, das heißt, sie müssen fließend kompatibel sein zwischen Systemen und Menschen und auch Nationen, zum Beispiel in Europa mit dem European Health Data Space (EHDS). Und sie müssen Reusable sein, das heißt, die Daten werden einmal aufgenommen, und sofern man das als Bürger möchte, können sie dann auch weitergegeben werden, an Register zum Beispiel. In medizinischen Fachregistern liegen die Daten anonymisiert vor, und an diesen Daten wird dann geforscht.


Ein Aspekt, den ich hier noch anführen möchte, ist die Präzision von medizinischen Inhalten. Wenn ich medizinische Inhalte mit einer standardisierten Fachsprache, mit standardisierten Maßeinheiten beschreibe, sind die Informationen, die dann erfasst und eventuell weitergeleitet werden, sehr viel besser, sehr viel präziser – ­gerade das ist auch für die Patientensicherheit wichtig, dass nicht irgendetwas durch die Welt geschickt oder den Patienten zugerufen wird, das dann vielleicht falsch verstanden wird. Oder dass ein Rezept ausgestellt wird, das man nicht lesen kann – auf diese Weise passieren unglaublich viele Fehler. Wir wollen also durch Digitalisierung, vor allem eben durch standardisierte Digitalisierung, Fehler vermeiden.



Die Kliniken haben ja in der Regel längst einen internen Datenstandard, so dass jeder Arzt in der Klinik die Daten abrufen kann. Ist die Vision, einen solchen Standard bundesweit zu haben?


Genau, und diese Standards sind wichtig: jeder kennt das DIN A4-Blatt, das ist ein Standard, der auf der Welt eingesetzt wird und akzeptiert ist von der Industrie, von Druckern, Herstellern und allen anderen. Dasselbe passiert auch bei den IT-Standards im Gesundheitswesen.


Das ist eine für das Gesundheitswesen angepasste Sprache, die weltweit entwickelt und auch weltweit zur Verfügung gestellt wird. Man entwickelt also nicht etwas Spezielles für Deutschland, sondern man macht es in einem weltweiten Konsens. Ich habe zum Beispiel einen Diagnosecode – das ist weltweit die ICD 10, die benutzt wird in einem Datenumfeld, welches die Daten dann als Schnittstelle weitergeben kann. Das ist das Wichtige, dass man hier Teil einer weltweiten Bewegung aller Staaten ist, die Daten in einem ordentlichen Format zur Verfügung stellen möchten.


Das heißt aber noch lange nicht, dass ich die Daten teilen möchte oder muss, sondern es bedeutet, sie sind erst mal in einem standardisierten Format zur Verfügung gestellt worden, was viele Softwareanbieter auch bereits können. Das reduziert auch die Kosten für die Anbieter. Wenn man das dann möchte, kann man auch Daten sammeln und sie weitergeben an Plattformen wie zum Beispiel das Forschungsdatenzentrum in Deutschland.


Eine einheitliche Programmiersprache wird also entwickelt oder ist zum Teil schon vorhanden?


Genau. Seit 40 Jahren gibt es da bereits die Bestrebungen, dass man weltweit zusammenarbeitet. Health Level Seven (HL7) ist eine weltweite Community, die einen umfassenden Rahmen und entsprechende Normen für den Austausch, die Integration, die gemeinsame Nutzung und den Abruf elektronischer Gesundheitsinformationen bereitstellen soll. Und für Imaging, also für Bilddaten, ist das das DICOM-Format.


Jetzt geht es noch um das Thema Datenschutz. Die Vorteile von bundesweiten Datenstandards lägen ja auf der Hand – aber wäre das datenschutztechnisch überhaupt realisierbar? Wie realistisch ist eine solche Lösung, dass man online – nach Anfrage natürlich – Zugriff auf Befunde aus ganz Deutschland hat? Wie sieht es dann mit der Datenhoheit der Patienten aus? 


Sobald die Daten eingespeist werden in Plattformen, die zum Beispiel mit Machine Learning und künstlicher Intelligenz arbeiten, bin ich dann nicht mehr derjenige, der die Daten noch zurückrufen oder sehen kann, was mit meinem einzelnen Datenpunkt passiert. In diesem Sinne wäre die Hoheit irgendwann eingeschränkt.

Die Hoheit bedeutet aber, dass ich zunächst selbst bestimmen kann, ob ich meine Daten, also zum Beispiel mein Kreatininwert in einen KI-Algorithmus für Niereninsuffizienz, einspeisen möchte. Wenn ich ihn eingebe, ist mein Datenpunkt dann einer von vielen – der bleibt auch da und kann dann nicht mehr entfernt werden. 


Ich kann also selbst bestimmen, ob ich der Forschung meine Daten zur Verfügung stellen möchte oder nicht. Und das ist mit einem Informed Consent möglich – auch ein Standard, den wir für Deutschland auf Basis von internationalen Standards fertiggestellt haben. In Deutschland sind die rechtlichen Vorgaben teilweise etwas anders als in anderen Ländern, und angepasst an unsere Vorgaben hier ist dieser Informed Consent etabliert. Der wird schon unterschrieben, wenn man ins Krankenhaus geht, beispielsweise in eine Uniklinik, und hier partizipieren möchte. Bei dieser Gelegenheit kann ich auch noch mal dazu aufrufen, dass man das tut und hier – im Prinzip ähnlich wie im Zusammenhang mit der Corona-Impfung – der Allgemeinheit wieder etwas zur Verfügung stellt.


Wenn man ein hervorragendes Gesundheitssystem haben und auf Basis von allerneuster Forschung behandelt werden möchte, sollte man in sich gehen und überlegen, ob man seine Daten dementsprechend zur Verfügung stellt. Es ist ja keine Spende, bei der man etwas weggibt, sondern man bekommt auch ganz viel zurück. 


Die Frage bezog sich auch noch darauf, wie realistisch es wäre, dass wenn ein Patient zwischen verschiedenen Krankenhäusern und Einrichtungen verlegt wird, dass dort Daten dann auch bundesweit abgerufen werden können, dass beispielsweise in einer Reha-Klinik die weiterbehandelnden Menschen dort dann auch direkt Zugriff auf die Daten hätten. Wie realistisch sehen Sie das?


Das ist ja in anderen Ländern schon üblich – das ist ja die Patientenakte, die aber erst mal gut gepflegt sein muss. Wir haben jetzt im Moment noch Zwischenlösungen. Das sind Dokumente, die man einfach ablegt und hin und her schickt, zum Beispiel Befunde oder Arztbriefe. Diese Dinge funktionieren schon mit dem Dienst der Gematik. Damit kann man einfach in einer sehr, sehr sicheren Umgebung innerhalb der Telematikinfrastruktur Dateien hin und her schicken. Das funktioniert ganz gut, und natürlich kann man die Daten dann weiterleiten. Das wird ja auch jetzt schon gemacht, und der Patient merkt das meistens gar nicht.


Wo gibt es in Bezug auf die Gesetzgebung, evtl. in Sachen Datenschutz, noch Hürden?


Ich glaube, das sind weniger gesetzliche Hürden. Die Gesetze, die gibt es seit 2004 – die sind sogar gar nicht schlecht. Eine Patientenakte sollte schon 2006 zur Verfügung gestellt werden. Es ist mehr die Ausgestaltung und Implementierung, es ist ein Umsetzungsproblem und weniger ein gesetzliches Problem. Die Standards sind vorhanden, die sind auch sehr gut, und die Patientenakte ist eigentlich fertig spezifiziert. Jetzt müssen die Hersteller das aber umsetzen. 


Wir haben in Deutschland natürlich noch weitere Diskussionen hinsichtlich der Auslegung der DSGVO. Die DSGVO ist nicht falsch oder schlecht, die gilt für ganz Europa und die europäischen Staaten zeigen uns ja, wie die Umsetzung funktioniert. Diskussionen entstehen bezüglich der Auslegung der einzelnen Datenschützer der Länder, die sehr viel Mitspracherecht haben. Eigentlich darf es keinen Unterschied geben zwischen den Bundesländern hinsichtlich der Patientenakte und der eigenen Daten. Das sind meine Daten, und ich will damit machen können, was ich möchte. Deswegen haben wir da sicherlich noch Justierungsbedarf. 

Aber die Gesetze sind gut und die Vorgaben der General Data Protection Regulation (GDPR) sind auch in Ordnung – damit kann man leben. 


Mal angenommen, das kriegt man in Bezug auf Datenschutz gut hin – inwiefern profitieren die Patienten davon, wenn die Daten einheitlicher werden?  


Der Nutzen ist groß. Zunächst einmal ist das sehr viel angenehmer. Ich muss nicht immer zu meinem Arzt, der irgendwie so eine Art Blackbox für mich ist, sondern ich bin beteiligt an dem System. Ich habe dadurch eine Health Data Literacy, und damit auch eine Health Literacy – das heißt, ich habe die Möglichkeit, die Befunde, die ich habe, selbst zu erkunden. Letztendlich wird eine medizinische Behandlung besser, je mehr Informationen ich über Arzneimittel und Prozeduren habe. Ich brauche Informationen über den Patienten selbst – erst dann kann ich gute Medizin machen. Wenn ich die Informationen nicht habe, weil sie nicht weitergetragen werden von anderen Ärzten oder von Apothekern oder von wem auch immer, dann mache ich einfach Fehler – und die kann man wirklich vermeiden. 


Wie wird das ganze Thema denn von Patienten und Patientenorganisationen wahrgenommen? Gibt es da eher Vorbehalte oder Kritik, dass es nicht schnell genug vorangeht? 


Ich war kürzlich bei verschiedenen Patientenorganisationen geladen, und da ist einstimmig die Meinung, dass wir hier schneller sein müssen, dass wir die Inhalte der Patientenakte allen zur Verfügung stellen müssen und dass diese Organisationen auch gerne mitarbeiten möchten bei der Ausgestaltung der Patientenakte.

Die Akte, die wir jetzt haben, ist im Prinzip eine Akte, die für jeden gilt, die aber nicht für spezielle Erkrankungen geeignet ist. Auf dem Gebiet müssten der normalen Akte noch spezielle weitere Inhalte hinzugefügt werden, damit die Erkrankungen, die eben etwas Besonderes benötigen oder besondere Laborwerte haben, genau abgebildet werden können. 


Eng mit den Vorteilen der Patienten verbunden: Welche Vorteile hätte es für die niedergelassenen Ärzte, wenn die Daten vereinheitlicht würden?


Das ist vor allem die Präzision der Daten. Die ist wichtig, damit ich Systeme nutzen kann, die meine Entscheidungen unterstützen (CDS-Systeme). 

Es gibt natürlich auch Nachteile, z.B. dass letztendlich die Ärzte diese Patientenakte befüllen müssen. Die haben hier einen wahnsinnig hohen Arbeitsaufwand, das anzulegen und zu befüllen, die Patienten auch dazu zu informieren. Das kann nicht sein, dass die Ärzte die Akten befüllen, und alle anderen, die dazu nicht beigetragen haben, haben davon Vorteile, forschen mit Hilfe der Daten usw. Daher brauchen die Ärztinnen und Ärzte dabei in irgendeiner Art und Weise Hilfe – fachliche, inhaltliche und auch finanzielle Hilfe. 


Stichwort Big Data: Es heißt ja immer, in den ganzen Daten schlummern Schätze, die man mit KI und Algorithmen besser heben könnte, wenn die Daten einheitlicher wären. Also zum Beispiel Korrelationen zwischen bestimmten Umweltfaktoren und Krankheiten. Sehen Sie diese Vorteile auch? Und ist Deutschland in diesem Feld in der Forschungslandschaft schon ins Hintertreffen geraten? 

Diese Public Health Forschung, die muss ausgebaut werden in Deutschland. Das heißt, ich habe bestimmte Krankheitsbilder, die ich über diese Datentöpfe erforschen möchte. In Israel beispielsweise ist es so, dass die anhand von einfachen Korrelationen erkennen, dass ein Mensch für bestimmte Krankheiten gefährdet ist. Brillenträger stürzen zum Beispiel häufiger als Menschen, die keine Brille tragen. Es gibt da unglaublich viele Möglichkeiten, Korrelationen aus den Daten herauszulesen. Das kann für die Politik genutzt werden, um Möglichkeiten der Früherkennung einzurichten oder auch einzelne Menschen über Apps auf Gefahren hinzuweisen.


Welche Investitionen sind erforderlich – und woher stammen die Gelder? Es gibt ja eine Menge Zuschüsse von Bund und Ländern, aber müssen Kliniken und andere Beteiligte nicht trotzdem noch investieren? Welche Ausgaben kommen da auf sie zu – und lassen diese sich womöglich durch Einsparungen ausgleichen, die danach anfallen?


Natürlich kann man das gegenrechnen – das machen auch viele Menschen. Ich bin nicht so sehr Freund davon. Ich denke immer, neue Technologien müssen auch in solchen Berufsgruppen Einzug finden, und dabei muss nicht immer alles vergütet werden. Eine Anschubfinanzierung kann man sicherlich einrichten, zum Beispiel machen wir vielleicht, weil wir ja alle noch keine Patientenakte haben, eine Anschubfinanzierung für ein Jahr. Dann sollten aber auch die üblichen Dokumentationspflichten, die ein Arzt hat, einfach in der Patientenakte zu finden sein. Und wenn er ein gutes Softwaresystem hat, das er sowieso befüllt, dann würden auch viele Daten direkt daraus übernommen werden können. Natürlich gibt es da weitere Dinge: ein Labor muss zum Beispiel die Daten in dem neuen Format einspeisen und kann nicht mehr in dem alten Format arbeiten. Aber auch da denke ich, hier muss man einfach als Unternehmen auf neue Technologien setzen. Das machen wir überall. Auch ein Autohersteller bekommt ja nicht auf einmal, weil es eine neue Schraube gibt, Geld für den Einbau einer neuen Schraube, sondern das ist tatsächlich ein neue Technologie, die einfach eingesetzt werden muss. Genau so sehe ich das. 


Die Ärzte haben bisher einfach auch nicht den Fokus auf die IT gelegt. So ein IT-Programm für die Niederlassung kostet für einen Arzt vielleicht 300 € im Monat. Wenn ich aber 200.000 bis 400.000 € pro Jahr an Umsatz habe, dann muss ich doch bitte in diese Technologie auch mehr investieren. Also für mich sind 1000 – 1.500 € für ein IT-System völlig normal. In anderen Ländern ist das auch normal. Nur bei uns denkt man immer noch, dass alles umsonst sein muss. 


Viele ältere haben damit auch noch angefangen, dass sie Software umsonst bekommen haben, z.B. von Pharmaunternehmen, und denken daher heute noch, dass das umsonst ist und nur so ein Gimmick ist. Das ist aber nicht so – das ist wirklich der erfolgskritische Faktor einer Praxis oder eines MVZ. Die Software ist notwendig, und dafür muss man einfach auch mal ein bisschen mehr Geld in die Hand nehmen. Und auch das muss nicht refinanziert werden vom System, sondern das gehört zu einer gut funktionierenden Praxis dazu.


Die Ärzte haben natürlich jetzt die Riesenarbeit vor sich, und natürlich müssen auch MFA, die dann auch viel der Arbeit abnehmen werden, vom Arzt geschult werden. Diese Schulungen – man kann Online-Schulungen dazu machen –, die können vom Bund gefördert werden. Im Prinzip ist das wie eine Fortbildung mit CME-Punkten, für Ärzte oder für MFA, die Management-Kurse machen. 


Sie beraten auch zahlreiche politische Gremien, die sich mit dem Thema der Interoperabilität der medizinischen Daten beschäftigen, und begleiten die Umsetzung des Krankenhauszukunftsgesetzes mit dem DigitalRadar, dessen Vorsitz Sie haben. Bitte geben Sie uns einen Einblick: Wo sehen Sie echte Fortschritte auf dem Weg, wo sehen Sie Willen und Tatendrang auf politischer Seite? Und wo gibt es noch Probleme, welche Hindernisse gibt es noch zu überwinden?


Der Digitalradar ist jetzt einmal erfolgt mit über 1900 teilnehmenden Krankenhäusern. 230 Fragen zur Digitalisierung und zu prozessualen Fragen sind gestellt worden. Und dabei stellte sich heraus, dass wir gar nicht schlecht sind in Deutschland. Besonders gut können wir Security – Privacy und Cybersicherheit sind gut ausgeprägt in Deutschland. 

Andererseits haben wir mit 5% den schlechtesten Wert in der Patientenpartizipation. Das heißt, der Patient ist digital überhaupt nicht angeschlossen an das Gesundheitssystem. Und das muss sich natürlich ändern. Viele Krankenhäuser werden jetzt Patienten-Portale einrichten. Das sind Softwaresysteme, die die Möglichkeit geben, dass man vorab schon Termine macht, Informationen erhält und Anamnesebögen ausfüllt. 


Sie haben auch das Netzwerk „#SHEHEALTH“ mitgegründet, Es hat das Ziel, das Engagement von Frauen vor allem im Bereich der digitalen Medizin sichtbar zu machen. Warum sind Frauen in der digitalen Medizin unterrepräsentiert? Gibt es da spezifische Gründe? 


Frauen sind unterrepräsentiert in Führungspositionen, im Gesundheitswesen und auch in den Gremien. Wobei wir da gerade wieder etwas geschafft haben, nämlich dass die Gremien zukünftig paritätisch besetzt werden müssen. Also wir sind auf dem Weg. 

Im Digitalbereich ist es noch drastischer. Was die Digitalisierung angeht, müssten einfach mehr Frauen Mitspracherecht haben. In anderen Ländern ist das nicht so, da sind auch viele weibliche Pflegekräfte dabei, weil die einfach die Prozesse kennen. 

Wir haben jetzt 800 Frauen im Netzwerk, die alle entweder wissenschaftlich arbeiten oder als Ärztinnen oder auch in der Pflege, und die sich für die Digitalisierung einsetzen. Nur werden sie leider wenig gehört auf den Podien und auf den Veranstaltungen und haben auch sehr selten Führungspositionen oder sind beispielsweise Geschäftsführerinnen von einem Start up. 

Was aber noch viel schlimmer ist, sind die Algorithmen. Algorithmen basieren auf Test- und Trainingsdaten. Und diese Tests und Trainingsdaten, die kommen vor allen Dingen aus klinischen Studien, in denen Frauen per se unterrepräsentiert sind, zumindest Frauen im Alter zwischen 15 und 50. Das ist ein Riesenproblem:  wenn der Algorithmus nicht weiß, dass es einen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Daten gibt und nur auf männlichen Daten basiert, dann wird der Algorithmus den Fehler „verschlimmbessern“, und so wird der Algorithmus immer schlechter für die Frauen. 


Worauf kommt es an, damit mehr Frauen in der digitalen Medizin sichtbar werden? Welche Initiativen des Netzwerks #SHEHEALTH haben sich hier als besonders erfolgreich erwiesen? 


Wir schreiben immer wieder Stellungnahmen zu laufenden Gesetzesverfahren und auch Aufrufe, zum Beispiel im Ärzteblatt, wie KI für Frauen gerecht werden soll. Es ist uns auch bewusst, dass es natürlich viele weitere Gruppen gibt, für die KI ungerecht werden könnte, wenn man den Bias nicht kennt. Aber Frauen sind zunächst einmal mit 51% die größte Gruppe. 

Darüber hinaus netzwerken wir, z.B. indem man sich gegenseitig die guten Stellenausschreibungen schickt. Das geschieht alles auf einer LinkedIn-Plattform, eher im Rahmen einer lockeren Zusammenkunft. 


Eine positive Frage zum Schluss: Wo ist denn die Vereinheitlichung der Daten Ihrer Meinung nach bereits überzeugend gelungen? 


Bei der Medizininformatik-Initiative. Da haben wir den sogenannten Kerndatensatz und arbeiten jetzt alle mit den gleichen Datenelementen. Diese Datenelemente (Medizinische Informationsobjekte; MIOs) wurden gemeinsam mit der Gematik unter Mio42 erarbeitet. Damit haben wir hier in der Forschung und in der Versorgung eben gleiche Datenelemente für zum Beispiel den Blutdruck oder einen Laborwert. 

Wir an der Charité haben schon viele Standards eingeführt, zum Beispiel den LOINC-Standard (Logical Observation Identifiers Names and Codes) für die genaue, präzise Bezeichnung von Laborparametern. Das heißt, fast ganz Berlin wird so schon mit sehr präzisen Laborbezeichnern und ordentlichen Maßeinheiten beliefert. Eigentlich darf man niemandem erzählen, dass das bislang nicht so war. 

Einheiten waren dabei nicht das Problem, die kann man ja gegenrechnen, und auch die Referenzwerte sind alle präzise und gut. Das Problem war die Benennung z.B. einer Laboruntersuchung – zum Beispiel gibt es 300 verschiedene Kreatinine. Und so haben wir jetzt einfach viel, viel bessere Daten.