
Interview mit Univ.-Prof. Dr. med. Sebastian Kuhn
Professor Kuhn ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit dem Schwerpunkt Schwerverletztenversorgung, Universitätsmedizin Mainz. 2017 etablierte er das erste Curriculum „Medizin im Digitalen Zeitalter“ für Medizinstudierende an der Universitätsmedizin Mainz, dann an weiteren Kliniken. Gemeinsam mit der Bundesärztekammer entwickelte er 2019 ein Fortbildungscurriculum zum digitalen Wandel. Zum 1. Oktober 2020 trat er die W3-Professur für Digitale Medizin an der medizinischen Fakultät OWL, Universität Bielefeld, an. Seit 1. Oktober 2022 ist er W3-Professor für Digitale Medizin an der Philipps-Universität Marburg und Leiter des Instituts für Digitale Medizin, Universitätsklinikum Gießen-Marburg. Er ist zudem Gründer und Geschäftsführer der MED.digital GmbH und Mitglied in mehreren Reformkommissionen und Gremien.
Interview: Dr. med. Gudrun Westermann, Fotos: Evelyn Dragan
„Das Smartphone ist das Stethoskop des 21. Jahrhunderts“
Herr Professor Kuhn, Sie forschen zur Digitalisierung in der Medizin – dies nicht nur theoretisch, sondern in der Praxis, in den Kliniken und in der Ausbildung von Medizinern und Medizinerinnen an Universitäten. Welche Bereiche untersuchen Sie schwerpunktmäßig dabei?
Im Endeffekt gibt es vier Schwerpunkte, die wir bearbeiten. Der erste ist Innovation, wo wir in interdisziplinären Teams im Sinne von Co-Design digitale Innovationen wirklich mitgestalten. Wir wollen nicht nur Empfänger sein von neuen digitalen Technologien oder Behandlungsprozessen, sondern diese aktiv mitgestalten.
Der zweite Bereich ist die Evaluation. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen dem, wie man ein Medikament oder ein klassisches Medizinprodukt, z.B. eine Prothese oder einen Herzschrittmacher, beurteilt und wie man eine digitale Technologie beurteilt. Hier ist unglaublich viel noch nicht festgeschrieben, was zum Beispiel die Bewertung digitaler Gesundheitsanwendungen angeht.
Im dritten Bereich geht es um ganz konkrete Projekte zur Implementierung, wo wir digitale Technologien in Diagnostik und Therapien einführen und dies auch mit klinischen Studien auch begleiten. Und der vierte und letzte Punkt: die Qualifizierung. Wie qualifizieren wir die nächste Generation von Ärzten? Und wie qualifizieren wir die existierende Generation von Mitarbeitenden in Gesundheitsberufen – von Menschen, die an der Basis arbeiten, bis hin zu Führungskräften?
Welche Chancen bietet die Digitalisierung aus Ihrer Sicht für die Patientinnen und Patienten?
Die ganz zentrale Chance ist, dass Patientinnen und Patienten dann Hilfe bekommen, wenn sie sie brauchen. Egal an welchem Ort, egal zu welchem Zeitpunkt. Zugang zur Behandlung zu erhalten ist oftmals schwierig. Patienten bemerken Symptome, wissen aber häufig nicht, zu welchem Arzt sie gehen soll.
Hier haben wir durch Digitalisierung eine riesengroße Chance, mit verschiedenen Projekten dort den Zugang und die Behandlung zu ermöglichen. Gerade letzten Freitag haben wir eine Arbeit publiziert, wo, wenn man Beschwerden hat, mit einem Anamnese-Check diese Beschwerden eingeordnet werden, dann aber auch darauf reagiert und der Zugang zur Behandlung gesichert wird – und das mit einer diagnostischen Treffsicherheit, die Fachärzten gleichwertig ist.
Der andere Einsatzbereich sind chronische Erkrankungen. Hier müssen wir wegkommen von der Quartalslogik. Das entbehrt in fast allen Fällen jeglicher medizinischen Logik. Mit Dingen wie zum Beispiel Tele-Monitoring können wir aber extrem gut bestimmen, wann jemand wiederkommen muss. Wir können besser sicherstellen, dass Menschen Hilfe bekommen, wenn sie Hilfe benötigen – in Diagnostik, Therapie, oder Verlaufsmanagement. Das ist, glaube ich, das zentrale Versprechen.
Welche Erwartungen haben denn Patientinnen und Patienten an die digitale Medizin?
Patientinnen und Patienten wünschen sich nicht grundlegend digitale Medizin. Sie wünschen sich auch nicht analoge Medizin. Sie wünschen sich eine gute Behandlung. Wenn sie Hilfe benötigen, wollen sie einen Termin haben. Wenn Untersuchungen laufen, dann wollen sie eine sichere Diagnose. Und wenn klar ist, was die Erkrankung ist, dann wollen sie eine effektive Therapie, die möglichst nebenwirkungsarm ist.
Sie wollen Zugang bekommen zu Ärztinnen und Ärzten, sie wollen kommunizieren können und ihre Erkrankung verstehen. Was liegt denn bei mir vor, und was kann ich vielleicht auch selbst zur Besserung beitragen? Das hat auch mit Patient Education zu tun, die man sehr gut digital unterstützen kann.
Welche Möglichkeiten gibt es, an die wir vielleicht noch gar nicht denken, die deshalb auch nicht eingesetzt werden, die aber den Patienten ebenso nützen können, wie Sie es gerade beschrieben haben?
Was manchmal zu wenig diskutiert wird ist, dass wir eine riesengroße Möglichkeit für mehr Patientensicherheit in der Behandlung haben. Negative Dinge passieren, weil Menschen nicht rechtzeitig in die Behandlung kommen, weil Verschlechterungen nicht rechtzeitig erkannt werden, weil Entscheidungs- oder Kommunikationsfehler entstehen. Poly-Pharmazie ist ein riesengroßes Problem in diesem Zusammenhang – dass Menschen von verschiedenen Ärzten unterschiedliche Medikamente bekommen.
Was haben andererseits die Ärzte und das Pflegepersonal davon, wenn sie digital unterstützt werden?
Wir haben einen neuen Werkzeugkoffer bekommen, den wir verstehen müssen und den wir sinnvoll für unsere Patientinnen und Patienten einsetzen müssen. Zum Beispiel bei der Anamnese, dem Herzstück der Arzt-Patienten-Interaktion. Sie dient nicht nur der Informations-Akquise, sondern auch dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses. Durch ein die Anamnese unterstützendes KI-Tool und eine strukturierte Anamnese-Form haben wir eine unglaubliche Chance, sicherzustellen, dass die Anamnese vollständig ist, dass auch an verschiedene seltene Erkrankungen gedacht wird, an Dinge, die man typischerweise übersieht, und dass der Patient zum richtigen Arzt kommt.
Dabei bin ich nicht dafür, dass ein Algorithmus allein entscheidet. Aber wir können Fähigkeiten augmentieren und bei jemandem, der in dem Bereich nicht Experte oder Expertin ist, das diagnostische Niveau deutlich anheben. Beispielsweise liegt beim malignen Melanom die diagnostische Treffsicherheit vieler Ärzte bei nur rund 50%, die von einem Facharzt bei 85%. Ein Algorithmus mit Bildanalyse hat dagegen 90-95% Treffsicherheit.
Durch Tele-Monitoring, z.B. bei Herzinsuffizienz, Lungenerkrankungen oder Diabetes mellitus können wir Verschlechterungen rechtzeitig erkennen und ärztlich intervenieren.
Und wir haben die Möglichkeit, die Therapie mit digitalen Methoden zu unterstützen, ob bei der kognitiven Verhaltenstherapie oder bei der Bewegungstherapie in der Physiotherapie.
Hat Corona die Digitalisierung wie in vielen anderen Bereichen auch im Gesundheitswesen beschleunigt?
Ich beschreibe die Corona-Pandemie immer ganz gerne als digitalen Meteoriteneinschlag. Da war ein enormer Nachholbedarf, der seit Jahren existiert hat. Und plötzlich wurden wir einige Jahre in die Zukunft geschleudert.
Es gab kleine Splitter, kleine Erfolgsmodelle, wo aber plötzlich in weiten Teilen der Bevölkerung eine erste Nutzung stattgefunden hat, zum Beispiel durch Dinge wie ein Impf-Zertifikat in einer App, also eine relevante medizinische Information, die von 30 Millionen Menschen innerhalb von weniger als einem Monat in der App genutzt wurde. Das sind wirklich ganz kleine Schritte. Aber am Anfang ist es vielleicht nur das Zertifikat und in einem Jahr sind es viele weitere Dokumente. Es geht um eine grundlegende Bereitschaft, einen gesellschaftlichen Transformationsprozess und da hat sich unglaublich viel verändert durch die Corona-Pandemie.
Corona ist also ein Beispiel, wo man neu anfangen, neu aufsetzen musste?
Das wurde im Gesundheitsbereich immer wieder verpasst, einfach mal zu sagen, wir setzen einen Standard – der muss natürlich sinnvoll und gut und etabliert sein, aber er wird zum Status. Und dann müssen sich auch verschiedene Akteurinnen und Akteure, Medizinprodukte-Hersteller etc. danach richten. Stattdessen wurde immer versucht, irgendwie Kompatibilität mit allem zu erzeugen, noch dazu in einer Landschaft, wo ganz viele Akteure Interoperabilität nicht wünschen.
Das ist einer der Gründe, warum wir in Deutschland dort extrem hinterherhinken im Vergleich zu anderen Ländern, zu Estland, zu Kanada.
Wo verändert sich die medizinische Landschaft gerade am stärksten? Und wo wird sie sich noch verändern durch die Digitalisierung?
Wo aus meiner Sicht wirklich in den kommenden zwei bis drei Jahren eine Revolution ausbrechen wird, das ist im Rahmen der chronischen Erkrankungen. Die sind eine riesengroße Last für die Patientinnen und Patienten, aber auch für das Versorgungssystem, für die Kliniken, für die Praxen. Herzinsuffizienz, COPD, Diabetes mellitus, aber auch Long COVID als neue chronische Erkrankung. Da wird die hybride Behandlung, also Behandlung in Praxis und Klinik mit Unterstützung durch digitale Tools, das Versorgungskontinuum sicherstellen. Das wird erstmalig so richtig in der Versorgungsqualität ankommen und auch zu einem spürbaren Mehrwert für alle Akteure führen.
Und ich glaube, der spürbare Mehrwert ist absolut entscheidend. Die Leute wollen nicht digitale Medizin an sich, sondern sie wollen eine bessere Behandlung. Die Herzinsuffizienz ist da wirklich ein Paradebeispiel. Die treppenförmige Verschlechterung führt dazu, dass die Menschen nicht mehr das Ausgangsniveau erreichen, und die wiederholte Dekompensation führt zum Tode. Herzinsuffizienz ist eine Erkrankung, die eine schlechtere Prognose hat als viele onkologische Erkrankungen.
Durch eine App können wir auf einfache, smarte Weise eine relevante Verschlechterung erkennen, bevor sie zu einer schweren Dekompensation führt, und zwar bis zu sieben Tage vor einer State-of-the-Art-Behandlung. Das ergibt eine Reduktion von etwa 30% bei der Sterblichkeit, eine deutliche Reduktion von stationären Aufnahmen, eine deutlich höhere Lebensqualität der Patientinnen und Patienten und eine Reduktion der Behandlungskosten.
Sie haben eine Studie veröffentlicht zu „Neuen Gesundheitsberufen für das digitale Zeitalter“. Welche Berufe sind das und wie können sie die klassischen ärztl./pflegerischen Berufe ergänzen?
Dabei gibt es zwei Aspekte. Das eine ist die Qualifizierung oder Weiterqualifizierung von existierenden Berufen – Ärzten, Pflegenden, Physio- oder Ergotherapeuten. Zum anderen gibt es aber auch die Überlegung, ob der digitale Wandel an einigen Stellen nicht so grundlegend ist, dass sogar neue Berufsbilder entstehen.
Wir haben dort exemplarisch drei skizziert. Die erste haben wir „Fachkraft für digitale Gesundheit oder Digital Health Carer“ genannt. Das sind Menschen mit sehr hoher Gesundheitskompetenz, ähnlich klassischer Gesundheitsberufe, aber mit digitaler Expertise. Die stehen auch weiterhin in unmittelbarem Patientenkontakt und stellen sicher, dass die Möglichkeiten auch wirklich bei den Patientinnen und Patienten ankommen.
Den zweiten nennen wir „Prozessmanager für digitale Gesundheit“. Das sind Personen, die ein Grundverständnis für Gesundheit brauchen, auch Digitalexpertise, zusätzlich aber auch Prozesse und Management beherrschen. Es ist eine riesengroße Aufgabe, in den Institutionen für die verschiedenen Krankheitsbilder Behandlungsabläufe zu überdenken, neu zu gestalten, zu implementieren und die Qualität zu sichern.
Den dritten nennen wir „Systemarchitekt für digitale Gesundheit“, manchmal als Chief Information Officer bezeichnet. Das sind häufig Personen mit Doppelqualifikationen (z.B. Medizin und Health-IT-Management), die dann übergeordnet dafür Sorge tragen, dass die verschiedenen entstehenden Prozesse in ein Versorgungskonzept münden, damit Synergien auch genutzt werden.
Wird es dann auch den digitalen Arzt geben?
Ich bin kein Verfechter eines Facharzt für Digitale Medizin, auch wenn ich eine Professur in diesem Gebiet inne habe. Ich glaube, dass jeder Arzt, jede Ärztin in dem Bereich kompetent sein muss – manche ein bisschen tiefer, andere eher mit Grundkompetenzen. Ich werbe für eine Zusatzqualifikation, wie wir sie auch in der Medizin schon haben, wie zum Beispiel Notfallmedizin. Der Hautarzt wird immer noch die Haut beurteilen, Kardiologen das Herz und Psychiater die psychischen Erkrankungen. Aber wir brauchen formalisierte Qualifizierungen, Programme, die unterschiedliche Ausprägungen haben, es braucht auch eine staatsrechtliche Anerkennung und eine Sichtbarkeit, um Personen zu motivieren, diese Zusatzqualifikation zu erwerben.
Das Berufsbild der Medizinerinnen und Mediziner wird sich stark verändern. Wie wird Ihr Klinikalltag in fünf oder zehn Jahren aussehen?
Das Berufsbild von Ärztinnen und Ärzten wird sich stark verändern, wenn man ein bisschen weiter in die Zukunft blickt. Ich arbeite gerne mit dem Bild des Zentauren.
So wie in dem Mischwesen aus Pferd und Mensch verschiedene Stärken miteinander kombiniert sind, so sehe ich die Medizin an manchen Stellen auch schon heute. Wir müssen die neuen Möglichkeiten sinnvoll in unser ärztliches Handeln integrieren. Wir haben mit Datenmengen zu tun, die wir rein menschlich nicht mehr bewältigen können. Wir brauchen die Unterstützung von intelligenten Systemen.
Wie qualifizieren wir das Pflegepersonal für die Medizin von morgen?
Ich glaube, es ist eine riesengroße Chance für die Pflege, aber auch für die anderen Gesundheitsberufe wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten – die ganzen Experten, die wir klassischerweise im Behandlungsteam in der Klinik, im MVZ oder auch im ambulanten Behandlungsablauf haben. Auch dort gilt es, die zentralen Aspekte dieser Berufe zu bewahren, aber zu kombinieren mit den neuen Möglichkeiten, die wir durch digitale Technologien haben, zum Beispiel im Bereich der Pflege durch Blended Care. Wir haben dort gute Möglichkeiten, wie wir die Präsenzpflege, die absolut erforderlich ist, kombinieren z.B. einer Situation, wo pflegende Angehörige nachts einen Rat brauchen, um zu entscheiden: muss die Pflegekraft kommen, oder können wir das morgen früh lösen?
In der Physiotherapie kann ich mit einer digitalen App mit einer KI-Unterstützung bei Bewegungsübungen durch einen Algorithmus die Rückmeldung erhalten, ob die Übung korrekt funktioniert, und ich kann auch die Verlaufsdokumentation sehr gut darüber abbilden. Man muss nicht mehr alles händisch ausfüllen, sondern es werden Messwerte generiert, die automatisch erfasst werden. Fortschritte werden für den Patienten sichtbar, aber auch gegenüber den Gesundheitsberufen und Ärzten sichtbar und kommunizierbar gemacht.
Wie sieht es konkret aus, wenn Digitalisierung auf dem Lehrplan steht – welche Kurse belegen Studierende und gibt es Praxisseminare?
Ich setze da stark auf Lernen durch Erleben. Es bringt nichts, nur Faktenwissen im Sinne einer Vorlesung zu präsentieren. Hier geht es um eine fundamentale Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle, mit dem eigenen Berufsbild. Daher versuchen wir, wissensbasierte Aspekte eher als kurze Inputs, zum Teil auch vorbereitend als E-Learning abzubilden, um, wenn wir gemeinsam in einem Raum sind, praktischen Fertikkeiten zu vermitteln und miteinander zu interagieren. Wir machen Hands-on Workshops, bei denen die Studierenden in die Rolle von Patienten, aber auch in Behandler-Rollen schlüpfen. Im nächsten Schritt tauschen sie sich mit verschiedenen Personen aus. Mit Patienten, die es schon nutzen, mit Kolleginnen und Kollegen, mit Entwicklern, mit Datenschützern, mit Personen, die auch Ethik und Patientenbelange adressieren, um so wirklich eine kritische Reflexion aus verschiedenen Bereichen zu erlangen. Nur so schafft man Veränderung, und das versuchen wir, mit diesen drei verschiedenen Komponenten zu unterstützen.
Ist es sinnvoll mit der Einführung der Digitalisierung bei den jungen Menschen zu starten?
Natürlich ist das bei jungen Menschen absolut essenziell. Wir haben mehrere Jahre gekämpft, dass „digital“ jetzt essenzieller Bestandteil des Medizinstudiums ist. Im nationalen Lernziel-Katalog und im Masterplan Medizinstudium 2020, den zentralen Reformprojekte der Bundesregierung und der medizinischen Fakultäten für die Perspektive bis 2030, kam „digital“ zwei Mal vor: einmal die Digitale Subtraktionsangiografie, eine Untersuchung, die man seit Jahren kennt, und zum anderen die digitale rektale Untersuchung – die kennen wir noch länger.
Es gehört ins Medizinstudium, und es gehört zum frühen Zeitpunkt hinein, weil es nicht nur um spezifisches Wissen geht, sondern eigentlich um eine Einstellung, ein Interesse, einen Teil der eigenen Rolle als Arzt oder Ärztin hinein, die beinhaltet, dass man sowohl in Präsenz als auch aus der Ferne für Patienten da sein kann und sollte. Es ist aber auch ein ganz zentraler Auftrag, über 500.000 approbierte Ärztinnen und Ärzte, die intensiv in Klinik und Praxis eingebunden sind, für die neuen Möglichkeiten zu qualifizieren.
Bei den Jüngeren sind Offenheit und Interesse überhaupt kein Problem. Aber das heißt nicht, dass diese Menschen digital kompetent sind im professionellen Kontext. Nur weil ich sechs Stunden im Schnitt mein Smartphone benutze und Medien auf Instagram und Facebook posten kann, heißt das nicht, dass ich digital kompetent Menschen behandeln kann. Es besteht dann die Gefahr einer unkritischen Nutzung, eine Überschätzung der Technologie, einer zu breiten Anwendung ohne klare Indikation und Einschätzung, für wen das geeignet ist und für wen nicht.
Wie ist es bei den Älteren – die müssen wir ja auch mitnehmen. Wie sind auch ältere Medizinerinnen und Mediziner leicht zu begeistern?
Aus meiner Sicht ist es keine Frage des Alters. Es ist ja eher eine Einstellung, sein eigenes ärztliches Handeln im Laufe des Lebens weiterzuentwickeln. Und es gibt viele ältere Kolleginnen und Kollegen, die unglaublich motiviert sind und Interesse haben, das fortwährend zu tun. Ich habe bei einer Reihe von Veranstaltungen auch Kolleginnen und Kollegen gehabt, die ein oder zwei Jahre vor Renteneintritt waren.
Es ist also nicht so sehr eine Frage des Alters, sondern von Interesse und Bereitschaft, sich selbst und die Möglichkeiten immer wieder zu hinterfragen und zu versuchen, die eigenen diagnostischen und therapeutischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
Blicken wir einmal ganz allgemein auf die Zukunft im Gesundheitswesen - welche tiefgreifenden Veränderungen erwarten Sie in den nächsten Jahren?
Ich glaube, dass eine zunehmende Orientierung hin zu Gesundheit anstatt zu Krankheit erfolgen wird. Dass wir also weniger dieser klassische Reparaturbetrieb sind. Wir werden uns viel stärker hin zu Outcome-orientierten Behandlungskonzepten entwickeln und weg der aktuellen DRG- und OPS-Logik, die sicherlich in einigen Bereichen auch falsche Anreize geboten haben, Interventionen oder operative Therapien durchzuführen.
Auch die Lebensqualität und die Patient Reported Outcomes werden viel stärker berücksichtigt werden. Und da werden digitale Tools Teil des Veränderungsprozess im Rahmen von Diagnostik und Therapie, aber auch ein Instrument sein, um die Veränderungen messbar zu machen.
Trotz Corona und vielen Innovationen geht die Digitalisierung im Gesundheitswesen in Deutschland schleppend voran. Es scheint langsamer zu gehen als in anderen Ländern. Woran liegt das?
Ein Problem war vielleicht, das in Deutschland versucht wurde, Innovation über sehr, sehr große Projekte voranzutreiben. Die elektronische Gesundheitskarte, die umfassende Einführung einer Telematik-Infrastruktur. Das ist in vielen Bereichen bis heute nicht Realität geworden. Man hat sich dort etwas verhoben.
Der Weg, den andere Länder gegangen sind, war, im ersten Schritt Innovationen kleinteiliger einzuführen. Wo kleine Erfolge erzielt werden und sowohl die Patienten als auch die Behandler spürbaren Mehrwert haben, erzeugt man ein Momentum, um im 2. Schritt Großprojekte heranzugehen. Dies erfordert dann eine umfassende Strategie, entsprechenden Institutionen, die den digitalen Wandel wirklich vorantreiben und einer adäquaten Finanzierung. Es ist auch absolut notwendig, die Erstattung medizinischer Leistungen daran zu koppeln. Im Gesundheitssystem werden sich Dinge, die vielleicht sinnvoll sind, aber keine Erstattung besitzen, nicht flächendeckend durchsetzen.
Wo machen es die rechtlichen Hürden Medizinerinnen und Medizinern besonders schwer?
Es besteht unglaublich viel Unsicherheit. Was ist erlaubt, was kann ich machen? Im Endeffekt gibt es dabei immer vier Komponenten: eine medizinische, eine technische, eine rechtliche und eine ethische. Und insbesondere bei der rechtlichen Komponente gibt es viele Unklarheiten.
Wenn ich zur gleichen Fragestellung verschiedene Personen befrage, zum Beispiel innerhalb meiner eigenen Institution, dem Krankenhaus, dann wieder bei einer Landesbehörde oder innerhalb von Fachgesellschaften, gibt es oftmals widersprüchliche Aussagen und keine Instanz, die diese Fragen kompetent und abschließend beurteilt. Daraus folgt ein hohes Maß an Unsicherheit für die Ärzte, die oft dazu führt, dass sich wenig in der Praxis verändert.
Es ist nicht nur der Datenschutz. Der Datenschutz wird von vielen Akteurinnen und Akteuren – nicht unbedingt von Datenschützern – als Schutzschild vor sich hergetragen, damit man in dem Bereich, wo man Expertin oder Experte ist, keine Veränderungen machen muss. Ich arbeite aber seit vielen Jahren unglaublich gerne und produktiv mit dem Landesdatenschutz zusammen und habe diesen nicht als Verhinderer kennengelernt.
Es besteht aber in vielen Bereichen keine Instanz, die wirklich festlegt, wie das Ganze erfolgen sollte. Ich glaube, das ist eine zentrale Aufgabe für die Fachgesellschaften, im Dialog mit unterschiedlichen Expertinnen die rechtliche, die technische und ebenso die ethische Seite einzubinden, und dann auch entsprechende Leitlinien zu gestalten und praktische Handreichungen herauszugeben, wie zum Beispiel für die Durchführung der Video-Sprechstunde. In dieser Art und Weise kann ich das rechtssicher, technisch kompetent, medizinisch adäquat und ethisch vertretbar abbilden.
Und ganz konkret: Was fehlt den Ärztinnen und Ärzten in den Krankenhäusern, um digital zu arbeiten?
Das Technische ist nicht die größte Herausforderung aus meiner Sicht, auch wenn dies oftmals aufgeführt wird. Die Technologie, die ist prinzipiell existent, wenn auch aktuell noch nicht in allen Kliniken. Die größere Herausforderung ist die Implementierung, die Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsprozesse und die Qualifizierung der Fachkräfte. Nur so schaffen wir es technologische Innovationen in sinnvolle Behandlungsabläufe zu übersetzen.
Das Smartphone und die angeschlossene Sensorik – das ist für mich das Stethoskop des 21. Jahrhunderts. So wie vor 250 Jahren durch die Erfindung des Stethoskops plötzlich in der Lage war, Dinge zu hören und eine Distanz zu überbrücken, erfolgt das heute durch ein Smartphone mit der angeschlossenen Sensorik – bis in den Alltag unserer Patienten. Ich kann Verschlechterungen erkennen bei chronischen Erkrankungen. Ich kann Dinge erkennen, wie zum Beispiel den Beginn einer Demenz, eine Verschlechterung bei M. Parkinson oder eine Exazerbierung einer COPD, die wir bisher nicht wahrnehmen konnten. Und Distanzen überbrücken, egal wo Patienten sind.
Eines Ihrer Spezialgebiete ist die Integration von Künstlicher Intelligenz in die ärztliche Behandlung. Wie sieht dies konkret aus und warum ist sie für den Fortschritt so wichtig?
Ich glaube wirklich, dass die Integration von künstlicher Intelligenz in die ärztliche Behandlung die wahrscheinlich größte Chance ist, die wir im Rahmen des digitalen Wandels haben. Wir haben die Herausforderung, dass jeder Patient eine unglaubliche Informations- und Datenmenge hat, die wir nicht überblicken können. Zum anderen haben wir das kollektive medizinische Wissen, das in der Fachliteratur publiziert ist und ein unglaublich rapides Wachstum erfahren hat.
Unsere Chance und auch das Potenzial ist, diese Integration von menschlicher Expertise zu stärken. Kommunikation, Interaktion und Vertrauen in Kombination mit großen Datenanalysen, mit Nutzung von kollektivem Wissen. In Bereichen, in denen wir Defizite, eventuell auch durch Ermüdung, haben, und die wir so wirklich im Sinne unserer Patientinnen und Patienten nutzbar machen können. Jeder Patient sollte doch die gleichen Chancen haben. Die Diagnosestellung ist am Nachmittag um drei aber deutlich schlechter als morgens um neun, und das können wir nicht eigentlich zulassen. Da werden dann die einzelnen Dinge wie Verfügbarkeit von Daten über elektronische Patientenakten wirklich zum Tragen kommen.
Viele Patientinnen und Patienten haben Vorbehalte gegenüber einer digitalen Patientenakte oder einem direkten Datenaustausch ihrer Krankengeschichte. Umfragen zeigen, dass die Deutschen da besonders kritisch eingestellt sind. Wie könnte man ihnen die Angst nehmen?
Vor allem von rechtlicher Seite müssen wir sicherstellen, dass Patientinnen und Patienten, Bürgerinnen und Bürger wirklich Hoheit über ihre Daten haben und grundlegend entscheiden können, was damit passiert. Zeitgleich müssen wir dafür werben und auch ein Verständnis erzeugen, dass eine vollständige Krankengeschichte, ein vollständiger Medikationsplan, in einigen Situationen essenziell notwendig ist. Und daraus müssen wir spürbaren Mehrwert für alle generieren. Der Notfall-Datensatz ist ein gutes Beispiel, wo auch aktuell schon eine hohe Akzeptanz bei Bürgerinnen und Bürgern besteht, damit man in kritischen Situationen die relevanten Informationen verfügbar hat. Darauf sollten wir aufbauen und eine schrittweise Erweiterung erreichen. Aber es sollte immer noch das Recht eines jeden sein, zu entscheiden, dass man bestimmte Dinge nicht gegenüber jedem einzelnen Behandler preisgibt, sei es eine psychische Erkrankung, sei es eine sexuell übertragbare Krankheit oder andere Dinge. Nur so können wir wirklich dieses Vertrauensverhältnis Ärzten und Patientinnen sicherstellen.
Wie verändert sich die Ansprache und Beziehung zwischen Arzt und Patient?
Überraschenderweise vielleicht gar nicht so sehr. Die ärztlichen Aufgaben und dieses Vertrauensverhältnis zwischen Ärztinnen und Patienten, das sollte weiterhin bestehen bleiben. Auch die ärztlichen Aufgaben, die sind und bleiben die gleichen. Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen, Leid zu lindern und Sterbende zu begleiten.
Das, was sich ändert, sind die Werkzeuge, um diese Ziele zu erreichen. Von daher glaube ich, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis durch diesen Wandel eigentlich unberührt bleiben sollte und dass wir sicherstellen sollten, dass die zentralen Aspekte bleiben.
Was ist für Sie persönlich die fantastischste digitale Erfindung der letzten Jahrzehnte?
Ich glaube wirklich, dass die Integration von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen zur Bewältigung von großen Datenmengen die zentrale Entdeckung ist, wo das Potenzial richtig zum Tragen kommt. Das ist bei Bild-Befundungen schon weitestgehend Realität, bei Diagnosen der Haut, Befunden bei der diabetischen Retinopathie, aber auch bei akustischen Signalen. Die Auskultation ist wirklich grundlegend mit der ärztlichen Profession verbunden, und dort sind plötzlich Dinge zu hören, oder bei chronischen Erkrankungen wie Herzinsuffizienz sind Veränderungen und dadurch die Dekompensation schon mehrere Tage früher zu erkennen, als ein Experte das wahrnehmen würde. Diese zentrale Erfindung basiert auch darauf, dass wir digitale Biomarker haben, wo wir Vitalwerte physiologischer Prozesse einfach noch schärfer verstehen. So wie uns das Mikroskop die optische Wahrnehmung geschärft hat, so können wir im Endeffekt über die künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen, die Signale besser verstehen.
Auch wir als Gesellschaft sind gefordert, uns neu aufzustellen und auszurichten – neue Wege zu denken. Was sind für Sie die wesentlichsten Wandlungen, auf die wir uns einstellen müssen?
Ich glaube, neben diesen ganzen Chancen, die wir angesprochen haben, die die digitale Transformation bietet, haben wir auch ganz klar eine relevante Gefahr, wenn wir nicht die entsprechenden Anpassungen, Qualifizierungen, Unterstützungsangebote bieten. Und das ist insbesondere, dass der digitale Wandel zu neuen Ungleichheiten führen kann und dass gerade bei den die Menschen, die in der Vergangenheit auch schon vulnerable Gruppen waren, ältere Menschen, Schwerkranke, multimorbide Menschen, Menschen mit Sprachbarrieren oder niedrigem Bildungsniveau und Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das sind gerade die, die ganz besonders unsere Versorgung benötigen, aber auch diejenigen, die Gefahr laufen, dass sie sie nicht erhalten, weil sie vielleicht nicht das kognitive Niveau oder nicht die Energie haben. Daher glaube ich, wird es eine ganz zentrale Aufgabe sein, dort Unterstützungsangebote, Kümmerer wie die schon erwähnten neuen Gesundheitsberufe zu haben, um sicherzustellen, dass der digitale Wandel nicht zu neuen Ungleichheiten führt.