
Interview mit
Prof. Dr. med. Helge Hebestreit
Prof. Dr. med. Helge Hebestreit leitet das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) am Uniklinikum Würzburg. Dort treibt er die Digitalisierung federführend voran – und fordert ein schnelles Handeln bei der Entwicklung des Datenschutzes. Er spricht über die Entwicklung des Datenschutzes und erklärt, warum die Digitalisierung gerade auch bei Seltenen Erkrankungen enorm wichtig ist.
Interview: Dr. med. Gudrun Westermann, Fotos: Sebastian Lock
„Wird die ePa gut gemacht, ist sie für alle wertvoll“
Herr Prof. Hebestreit, Sie leiten das Zentrum für Seltene Erkrankungen und engagieren sich stark dafür, dass mehr Digitalisierung bei der Erforschung, Diagnostik und Therapie von Seltenen Erkrankungen Einzug hält. Warum halten Sie die Digitalisierung ausgerechnet bei Seltenen Erkrankungen für so wichtig und erfolgversprechend?
Da gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Der erste ist, dass Menschen mit Seltenen Erkrankungen oft weit verstreut leben, und Reisen sind, gerade wenn man eine chronische Erkrankung hat, sehr belastend. Die Digitalisierung hilft, Befunde zu übermitteln, Kontakt zu halten und dadurch diese Belastungen für die Betroffenen zu reduzieren.
Der zweite Grund ist, dass die Experten für Seltene Erkrankungen auch nicht alle an demselben Ort leben. Wenn diese sich austauschen wollen, miteinander reden über Videokonferenz-Tools, Daten austauschen, Daten gemeinsam, aber auch asynchron anschauen, geht das sehr gut mit digitalen Mitteln. Wenn ein Spezialist in den USA oder in Japan lebt und einer hier, oder wenn Sie von 30 Leuten eine Rückmeldung brauchen, gelingt es nicht immer, gemeinsame Termine zu finden. Eine asynchrone Bearbeitung von Fällen ist da sehr hilfreich.
Ein dritter Grund ist, dass man Digitalisierung sehr gut nutzen kann – wenn man denn die Daten zur Verfügung hat – um zum Beispiel nach ähnlichen Fällen zu suchen. Ganz viel wird sie in diesem Zusammenhang schon genutzt bei der Beurteilung von genetischen Befunden. Sind Veränderungen, die man bei einem Menschen mit einer besonderen Erkrankung gefunden hat, vielleicht in der Normalbevölkerung schon mal beschrieben? Heißt das dann, dass der Befund eine direkte Konsequenz hat, oder wissen wir einfach nichts über seine Bedeutung? Da helfen die Riesen-Datenmengen zu genetischen Informationen, die es weltweit gibt und die digital zugänglich sind, bei der Beurteilung und Zuordnung von Befunden.
Digitalisierung kann auch bei der Bildanalyse helfen, auch im wissenschaftlichen, nicht nur im klinischen Bereich. Und Digitalisierung kann helfen, optimal an Zielstrukturen von Zellen angepasste Medikamente zu designen. Bis zur Anwendung in der Behandlung müssen diese Substanzen dann natürlich den ganzen üblichen Studienverlauf nehmen, aber dieser Weg ist trotzdem oft einfacher, als zu warten, ob irgendwer irgendwo per Zufall beobachtet, dass eine Substanz helfen könnte.
Insofern ist das Anwendungsfeld für Digitalisierung bei den Seltenen Erkrankungen extrem breit.
Sie haben jetzt schon die Vernetzung der Wissenschaftler und Experten erwähnt, bei der Forschung und beim Datenaustausch. Ein wesentlicher Teil der klinischen Forschung, um Therapien auf den Markt zu bringen sind Studien mit Patienten, von denen es bei Seltenen Erkrankungen ja weniger gibt. Inwiefern kann Digitalisierung hier helfen, und warum ist das gerade bei Seltenen Erkrankungen so wichtig?
Wenn Sie eine klinische Studie bei einer häufigen Erkrankung planen, können Sie diese vielleicht in Würzburg allein durchführen, oder zumindest in Deutschland. Geht es um eine Seltene Erkrankung, gibt es eigentlich fast keine klinische Phase- IIIStudie, die nicht international bzw. weltweit läuft. PhaseIIIStudien sind die Studien direkt vor der Marktzulassung, in denen die Wirksamkeit und die unerwünschten Effekte eines Medikaments an einer „größeren“ Zahl von Betroffenen getestet werden. Allein schon, um so eine Studie überhaupt durchzuführen, brauchen Sie Digitalisierung. Sie können sich nicht alle zwei Tage treffen, um Dinge zu klären. Da gibt es Datensammel-Tools, Webordner mit Informationen, E-Mail-Verkehr und virtuelle Treffen. Selbst so was Strukturiertes wie eine klinische Studie kann man ohne Digitalisierung heute gar nicht mehr auf den Weg bringen.
Diese Art der Zusammenarbeit hat auch durch die Corona-Pandemie einen Schub bekommen. Corona war und ist zwar keine Seltene Erkrankung, aber eine neue. Und da konnte man sehen, wofür unsere Arbeit mit den Seltenen auch gut ist. Es gibt ja immer diese Diskussion: Lohnt sich denn der Aufwand für die paar Leute mit einer Seltenen Erkrankung? Als Corona kam, hatten wir in den Zentren für Seltene Erkrankungen schon alles Notwendige für digitale Zusammenarbeit und Datenaustausch etabliert. Dann kamen die Fragen: Wie mache ich Lehre virtuell? Wie betreue ich Patienten virtuell? Wie realisiere ich virtuelle Treffen einer Selbsthilfegruppe? Da konnten wir hier aus dem Zentrum für Seltene Erkrankungen für das ganze Uniklinikum in Würzburg unterstützen. Wir hatten das Equipment und Know-how. Natürlich sind dann im Laufe der Corona-Pandemie alle schnell so weit gekommen, dass sie die digitalen Tools selbst nutzen konnten und verfügbar hatten, aber der erste Schritt, um das Ganze zu etablieren, der ist auch in den Zentren für Seltene Erkrankungen passiert. Und so wird es mit der übrigen Digitalisierung auch sein. Das, was wir für die Seltenen in kleinem Rahmen entwickeln, weil wir es einfach müssen, kommt anderen zugute, die es vielleicht nicht unbedingt müssen, aber für die es auch ein Vorteil ist.
Da sind Sie also Vorreiter! In Bezug auf Register und digitale Gesundheitsplattformen – wie kompliziert gestaltet sich das in Deutschland, wo ein großer Fokus auf dem Datenschutz liegt? Wie funktioniert das zum Beispiel für die IT-Plattform des Bayerischen Arbeitskreises für Seltene Erkrankungen, das BASE-Netz?
Wir legen in Deutschland schon ein sehr viel deutlicheres Augenmerk auf den Datenschutz als die meisten anderen Länder, die ich kenne. Der Datenschutz stellt gerade in der Medizin und bei den Seltenen Erkrankungen auch besondere Anforderungen und zwingt einen, wirklich immer zu hinterfragen: Kann ich das so einfach machen, oder kann ich es vielleicht auch anders – mit besserem, adäquatem Schutz – realisieren? Ich habe jedoch noch keine Situation erlebt, wo der Datenschutz etwas endgültig verhindert hätte. Man muss sich allerdings viel mehr als in anderen Ländern überlegen, welches Tool man benutzt und welche Wege man geht. Ich glaube aber auch, dass davon ultimativ alle profitieren.
Das BASE-Netz ist ein Beispiel für ein System, das funktioniert – auch datenschutzrechtlich. Das BASE-Netz ist ein vernetztes IT-Tool, über das Menschen mit dem Verdacht auf eine Seltene Erkrankung an einem bayerischen Zentrum angemeldet und ihre Unterlagen zur Verfügung gestellt werden können. Die ganze Fallbearbeitung läuft dann über das BASE-Netz-System, ggf. können zusätzlich zu den lokalen Experten auch solche aus anderen beteiligten Zentren um Rat gefragt werden. Zumindest in Bayern können wir das BASE-Netz jetzt schon vollumfänglich nutzen, und wir sind in Gesprächen mit Zentren in Nordrhein-Westfalen, auch in Baden-Württemberg, um das Netz auszuweiten.
Ein anderes Beispiel zu einem aktuell noch ungelösten Problem: In Bayern dürfen wir keine E-Mail mit medizinischen Inhalten an Patienten schicken. Wir dürfen Informationen faxen – aber Fax ist ein zeitlich endliches Modell, das wird nicht mehr lange verfügbar sein. Wenn man sagt, E-Mail geht nicht, dann muss man eine andere, möglichst unkomplizierte Lösung anbieten, aber diese Lösung haben wir im Moment noch nicht. Für die Kommunikation unter Ärzten arbeitet ja die Gematik an Lösungen, aber das ist auch noch nicht so weit, wie man es gerne hätte. Im BASE-Netz gibt es auch eine Funktion, mit der wir mit einem Patienten oder auch dem Arzt wie mit einer E-Mail kommunizieren, aber diese müssen natürlich erst mal im System angemeldet sein. Wenn jetzt jemand akut schwerkrank ist, dann muss es schneller gehen, man braucht andere Kommunikationswege. Das Telefon funktioniert glücklicherweise immer noch, aber das setzt wieder voraus, dass beide Seiten gleichzeitig Zeit haben. Und es gibt manchmal Dinge, die vielleicht nicht jetzt sofort, aber heute noch passieren müssen, und dafür fehlt noch eine Lösung.
Natürlich ist die Idee des BASE-Netzes auch, Patientendaten für wissenschaftliche Fragestellungen verfügbar zu haben – die Entwicklung ist ja vom Bayerischen Forschungsministerium finanziert worden. Da gibt es viele Ideen zur wissenschaftlichen Nutzung, von Versorgungsforschungsaspekten bis hin zu der Frage: Kann uns künstliche Intelligenz helfen, aus der Masse der Informationen, die wir zu einem Patienten zur Verfügung gestellt bekommen, Punkte herauszufiltern, die uns sagen: Da müsst Ihr sofort etwas tun. 1.000 Seiten Arztbriefe, Befunde und Laborwerte durchzulesen dauert einfach zu lange. Insofern kann am BASE-Netz, obwohl es primär erstmal zur Versorgung bestimmt zu sein scheint, ganz viel für die Forschung und digitale Entwicklung dranhängen, auch Register. Register helfen, das Seltene zu sammeln, Muster zu erkennen und zu sehen, wo es Übereinstimmungen mit schon Bekanntem gibt.
Gibt es bereits Beispiele für Erfolge bei der Erforschung Seltener Erkrankungen, die erst durch die Digitalisierung möglich wurden?
Vor allem die Medikamentenentwicklung. Es gibt Medikamente, die mit digitalen Mitteln designt und auf den Weg gebracht worden sind. Und auch wenn Sie eine internationale Phase-III-Studie machen, geht das nicht ohne digitale Tools, die überall auch datenschutzrechtlich funktionieren.
Eine ganz wichtige Stellung hat auch die Genetik. Eine Genom-Analyse ohne Digitalisierung ist unmöglich, das kann keiner mehr händisch. Auch der Vergleich mit Bevölkerungsdaten geht nur noch mit Digitalisierung. Und auch für die Tumor-Genetik, die jetzt in der Onkologie für die personalisierte onkologische Behandlung genutzt wird, spielt die Digitalisierung eine riesige Rolle, da eine Auswertung besonders zeitkritisch ist, um den Tumor sofort gezielt angehen zu können.
Ein weiteres gutes Beispiel ist die Bildanalyse für radiologische Befunde oder Fotos von Gesichtern, bei der die Digitalisierung schon jetzt sehr weit ist, z.B. bei der Diagnosefindung. Mit künstlicher Intelligenz lässt sich hier aber noch mehr erreichen.
Auch sind andere und wir aktuell dabei, mit unseren Maschine-Learning-Gruppen die Daten aus Projekten zu Seltenen Erkrankungen anzugehen, um zu schauen, ob eine digitale Unterstützung nicht auch bei der Diagnosefindung solch komplexer Krankheitsbilder helfen kann.
Die Diagnostik bei Seltenen Erkrankungen ist ein Problemfeld. Sie haben schon die Genomanalyse erwähnt, die so wichtig ist, weil sehr viele von den Seltenen Erkrankungen genetische Ursachen haben. Hier hat es ja durch die Strukturen mit den Zentren für Seltene Erkrankungen unterschiedlicher Spezialisierung in den letzten Jahren schon einen Fortschritt gegeben. Inwiefern hilft die Digitalisierung hier bereits, in Bezug auf die Organisation und Vernetzung der Strukturen?
Wenn man sich das im BASE-Netz anguckt, liegt der Vorteil darin, dass alle Beteiligten auf die gleichen Daten zugreifen können – auch der Patient. Da gibt es ganz viele Möglichkeiten, wo man Kommentare hinterlegen oder Befunde hochladen kann, wo einfach alle, die mit einem Fall zu tun haben, alles, was bereits vorhanden ist, sehen können. Auch ist die ganze interne Kommunikation nicht mehr auf Zetteln in der Akte, sondern komplett im BASE-Netz-System hinterlegt, so dass man einen Überblick hat: Was ist noch offen, was müssen wir noch machen?
Gibt es Erfolge/Beispiele, inwiefern die Digitalisierung die Odyssee der Patienten verkürzt? Inwiefern sich Ärzte besser austauschen?
Natürlich kann durch das Verfügbarmachen aller Informationen und eine strukturierte interdisziplinäre Fallbearbeitung – beides wird durch die Digitalisierung unterstützt – der Weg zur Diagnose verkürzt werden. Das gilt jedoch nicht nur für Seltene Erkrankungen. Man denkt immer, dass die meisten Menschen, die sich bei uns zur Abklärung melden oder hierher überwiesen werden, eine Seltene Erkrankung haben. Die allermeisten haben aber keine Seltene Erkrankung. Oft haben sie eine Kombination verschiedener Dinge aus dem nicht-seltenen Erkrankungsbereich, vielleicht mit einer psychischen Zusatzerkrankung, die sich aufgrund des langen Leidensweges entwickelt hat, plus eventuell Nebenwirkungen von Medikamenten. Deswegen kümmert sich ein Zentrum für Seltene Erkrankungen gar nicht nur um Seltene Erkrankungen, sondern wir agieren mehr wie ein Hausarzt für eine komplexe Symptomatik in einem Medizinsystem, in dem die Spezialisten immer spezialisierter werden und der Blick auf das große Ganze manchmal verloren geht. Die Möglichkeiten, die wir hier am Uniklinikum haben – verschiedenste Fachgruppen und Experten zusammenzubringen, die sich zusammentun und diskutieren, was der Patient denn eigentlich wirklich hat, die gibt's ja woanders überhaupt nicht mehr. Ein solcher interdisziplinärer Austausch, teilweise unter Einbeziehung von Expertise über große Entfernungen, ist aber ohne Digitalisierung – Datenbereitstellung und virtuelle Treffen – gar nicht denkbar.
Wir können gern mal einen Beispielfall durchsprechen, wie ein Patient durch ein durch die Digitalisierung gestärktes Netz an Diagnostik schneller eine Diagnose bekommt…
Wir hatten jetzt beispielsweise einen Patienten, knapp 60 Jahre alt, der an verschiedensten Stellen Gelenkschmerzen und -ergüsse hat. Er war beim Rheumatologen, der aber nichts findet und deshalb sagt, der Patient habe nichts. Aber so weit zu denken, dass der Patient als Hauptproblem eventuell sehr frühzeitig sehr viele Arthrosen entwickelt hat, das ist nicht passiert, und eine Abklärung in diese Richtung ist einfach noch gar nicht gemacht worden. Die Hauptsache ist wirklich, diesen großen, breiten Blick zu haben und zu erkennen: da fehlt etwas Entscheidendes zur Abklärung. Genau in dieser Situation hilft uns natürlich wieder die Digitalisierung um weiterzukommen, vor allem für Fallkonferenzen mit Experten, die nicht zum Kernteam im Zentrum gehören.
Für diese virtuellen Fallkonferenzen haben wir Systeme wie Konsil-SE, auch um deutschlandweit direkt miteinander zu sprechen, aber auch – und das ist das Besondere – Konsile schriftlich abzugeben. Die Software Konsil-SE basiert auf dem Clinical Patient Management System CPMS der Europäischen Referenznetzwerke. Der Vorteil hierbei ist, dass die Europäische Union gesagt hat, das CPMS müsst Ihr alle in den Referenznetzwerken benutzen. Da jedes deutsche Uniklinikum an irgendeinem dieser Europäischen Referenznetzwerke beteiligt ist, mussten auch alle deutschen Unikliniken das CPMS akzeptieren. Daher sind die Datenschutzfragen für das CPMS geklärt - und damit größtenteils auch für Konsil-SE. Konsil-SE ist jetzt für ganz Deutschland in Würzburg auf dem Uniklinikums-Server gehostet.
Beim CPMS und auch bei Konsil-SE werden Patientendaten pseudonymisiert eingegeben. Dann lädt man gezielt Experten ein, die einen beraten sollen, und die können dann ihre Kommentare schriftlich aufgrund der vorhandenen Unterlagen abgeben, oder auch an einer Videokonferenz in dem System teilnehmen und miteinander diskutieren.
Wenn Sie einen bestimmten Fall haben und europaweit diskutieren, kann es sein, dass ein anderer sagt: ich habe so einen ähnlichen Fall. Dann kann man auch schauen, ob ein Patient von einer Medikation profitiert hat, und dann fängt man plötzlich an, aus der klinischen Versorgung heraus in wissenschaftliche Fragestellungen zu kommen. Das lässt sich oft bei Seltenen Erkrankungen gar nicht so einfach trennen. Manchmal gibt es dann Aha-Momente, wenn einer eine Therapie ausprobiert, und sie wirkt, und der andere hat auch so einen Fall, bei dem die Behandlung anschlägt – dann haben Sie plötzlich für eine kleine Gruppe von Patienten eine neue Behandlungsoption.
Die Therapie Seltener Erkrankungen erfordert eine hohe Fachkenntnis. Und sie ist häufig ein Leben lang notwendig. Damit die Patienten und Patientinnen nicht immer weit fahren müssen, versucht man ganz Deutschland relativ gleichmäßig mit Experten abzudecken. Inwiefern kann Digitalisierung hier helfen?
Wie bereits gesagt, helfen die digitalen Werkzeuge, Daten rasch auszutauschen und Patienten und Ärzte zu vernetzen. Dadurch ist eine heimatnahe Betreuung zumindest zum Teil zu realisieren. Aber weite Wege lassen sich auch dann nicht ganz vermeiden.
Das ist bei der Mukoviszidose, einem Schwerpunkt meiner Arbeit, glücklicherweise selten nötig, weil es dafür genug Zentren gibt. Manche Menschen fühlen sich aber in dem Zentrum, das bei ihnen in der Nähe ist, nicht so wohl und gehen lieber woanders hin, so dass dann die Entfernungen plötzlich doch größer werden, als man sie gerne hätte. In der Corona-Zeit haben wir auch bei der Betreuung der Mukoviszidose sehr viel mit digitalen Mitteln gemacht. Wir haben unsere kränkeren Patienten mit Lungenfunktions-Messgeräten zu Hause ausgestattet. Eine Patientin hat sich sogar selbst Blut abgenommen und dann an uns geschickt. Rachenabstriche und Sputumproben für mikrobiologische Tests kann man auch gut zu Hause gewinnen und schicken. Und auch die Beratungen können Sie wunderbar virtuell machen. Genauso können Sie mit den heimatnah betreuenden Ärzten alles virtuell besprechen, wenn der Patient vor Ort gesehen wird.
Trotzdem ist es so, dass wir unter Normalbedingungen eher anstreben, dass die Patienten wirklich vor Ort bei uns gesehen werden. Im Moment ist es noch so, dass die Patienten alle drei Monate viele Untersuchungen brauchen – dann können sie auch das Rezept mitnehmen. Es ist also einfacher, alles im Rahmen eines Termins vor Ort zu kombinieren. Aber das wird sich wahrscheinlich ändern, wenn jetzt das E-Rezept tatsächlich kommt und man nicht mehr die Überweisung abgeben muss.
Was auch eine immer wichtigere Rolle spielt, gerade auch bei der Mukoviszidose, ist, dass unsere Patienten immer gesünder werden und dann alle möglichen Dinge unternehmen wollen. Zwei, die ich noch selbst betreue, gehen jetzt zum Beispiel ins Ausland zum Studium, der eine nach Portugal, der andere nach Spanien. Das ist ja toll, aber sie sind dann halt weit weg, also wird eine Fernbetreuung notwendig sein. Natürlich kennen wir auch Ärztinnen und Ärzte in den jeweiligen Ländern und Städten, und wenn dann wirklich akut etwas ist, dann müssen sich unsere Patienten dort vorstellen. Ansonsten wird natürlich alles zwischen geplanten Vorstellungen bei uns virtuell gemacht. Das gleiche passiert im Urlaub, wenn die Familien mit ihrem kranken Kind irgendwo hinfahren, und das Kind dann ein Problem hat. Dann läuft die Kommunikation auf virtueller Ebene.
Bei anderen Erkrankungen – bei den richtig seltenen, für die es dann überhaupt keine spezialisierten Zentren gibt oder vielleicht nur ein Zentrum in ganz Europa – ist es durchaus wesentlich üblicher, dass man auch primär virtuell arbeitet, weil einfach die Wege unendlich viel weiter sind.
Können Experten aus der Entfernung über einen Arzt vor Ort therapieren, wird das schon so praktiziert? Und gibt es Online-Fortbildungen?
Normalerweise arbeitet ja ein Uniklinikum mit Niedergelassenen zusammen. Bei Seltenen Erkrankungen ist es oft so, dass die Wege weit sind. Das Spezialzentrum, das sich eigentlich kümmert, ist vielleicht in Hamburg, die oder der Betroffene lebt bei Würzburg. Natürlich können dann trotzdem viele Maßnahmen heimatnah durch einen Arzt vor Ort erledigt werden. Oft ist das der Kinderarzt oder Hausarzt. Aber wenn diese Patientin oder dieser Patient ein paar Blutabnahmen braucht, die der Hausarzt nicht machen kann, z.B. für spezielle oder kritische Parameter, für die man das Ergebnis am selben Tag wissen will, und nicht erst drei, vier oder fünf Tage später, dann gibt es durchaus die Situation, dass wir die Blutabnahme hier am Uniklinikum machen. Und dann gehen die Werte nach Hamburg, und die Hamburger steuern die Therapie. Wir machen in dem Fall die „Hilfsarbeiten“ und in einem anderen Fall ist es vielleicht umgekehrt. Die Kommunikation läuft dann natürlich digital.
Früher haben wir Fortbildungen immer per Video aufgezeichnet, auf eine DVD gebrannt und dann den Leuten zur Verfügung gestellt. Das ist ein Riesenaufwand. Inzwischen machen wir die Weiterbildung komplett virtuell oder auch hybrid. Das ist eine gewisse Herausforderung, aber bei einem begrenzten Zuhörerkreis ganz gut hinzubekommen.
Seltene Krankheiten werden ja oft individuell behandelt, personalisierte Medizin steht hier im Vordergrund. Welche Rolle spielt Digitalisierung dabei?
Bei Seltenen Erkrankungen ist die individualisierte Medizin schon sehr lange ein Thema. In den USA hat z.B. Barack Obama 300 Millionen Dollar für die Entwicklung der personalisierten Medizin zur Verfügung gestellt, und er hat u.a. neben der Gruppe der onkologischen Erkrankungen die Mukoviszidose ganz explizit erwähnt.
Die Mukoviszidose ist die erste, noch relativ häufige Seltene Erkrankung, die in großem Umfang personalisiert aufgrund der genetischen Befunde behandelt wird. Es gibt zur Behandlung bei dieser Erkrankung die sogenannten Modulatoren – Medikamente, die das defekte Eiweiß korrigieren und in seiner Funktion verbessern sollen –, und die Auswahl der Modulatoren ist abhängig davon, welche genetischen Veränderungen die Patientin bzw. der Patient hat. Je nachdem gibt es das eine Medikament oder ein anderes, eine Kombination aus mehreren, oder es gibt eben auch gar nichts. Denn leider gibt es für ca. 20 Prozent der Mukoviszidose-Betroffenen immer noch keine personalisierte Therapie.
Es gibt andere Erkrankungen, z.B. den Morbus Fabry – eine Stoffwechselerkrankung, bei der auch für gewisse Patientinnen und Patienten Medikamente zur Verfügung stehen, die für andere mit derselben Erkrankung nicht geeignet sind. Ebenso bei der spinalen Muskelatrophie. Diese Erkrankung ist durch die Presse gegangen, weil ein sehr teures Medikament verlost worden ist. Auch bei der spinalen Muskelatrophie gibt es Medikamente, die nur in besonderen Fällen wirken, also nicht bei jedem.
Wo ist Deutschland zurück in Bezug auf das Nutzen der Chancen der Digitalisierung für die Erforschung seltener Erkrankungen? Was fordern Sie, was muss wo geschehen?
Es kommt immer darauf an, mit wem man sich vergleicht. Wenn man zum Beispiel sagt, man will einen guten Datensatz in Bezug auf die Gesamtbevölkerung haben, dann guckt man nach Skandinavien, wo die Daten einfach komplett verfügbar sind. Deutschland versucht, das aufzuholen durch die Medizininformatik-Initiative – da sind aber bisher auch nur Teile des Datenschatzes gehoben.
Wenn es um die digitale Infrastruktur geht, wo man mal eine Fall-Konferenz machen kann, da sind wir vorn. Es gibt jetzt ein europäisches Projekt zur Vernetzung bei Seltenen Erkrankungen, eine sogenannte Joint Action der Europäischen Kommission für alle Länder der EU, und da ist Deutschland mit der Konsil-SE Software weiter als viele andere in Europa.
Beim Einsatz von KI bei Seltenen Erkrankungen, da sind wir nicht schlecht. Aber das läuft oft in Kombination mit anderen Ländern wie den USA, oft auch mit vielen zu klärenden Datenschutzfragen, die sich spätestens dann ergeben, wenn man die entwickelten Lösungen wirklich anwenden will und die Frage nicht nur wissenschaftlich betrachtet. Da, würde ich sagen, ist sicher noch Potenzial und Luft nach oben – was die Grundstrukturen und Vernetzungen anbetrifft, da können wir sicher noch ganz viel aufholen.
Welche Chancen sehen Sie in der Zukunft durch Digitalisierung für die Forschung und Diagnostik?
Egal, ob in der Diagnostik oder in der Forschung, ich glaube, in dem Moment, wo die Daten wirklich verfügbar sind, wird uns die Digitalisierung durch die Mustererkennung unendlich weiterbringen. Auch, um den Versorgungsbedarf besser zu verstehen. Wie viel Menschen gibt es eigentlich mit dieser Erkrankung? Wie will ich mein Gesundheitssystem strukturieren, um diese gut zu versorgen? Das wissen wir ja gar nicht. Man sagt immer, es gebe 4 Millionen Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland, aber sicher weiß das kein Mensch. Es könnten auch einige Millionen mehr sein. In England wird von deutlich höheren Zahlen ausgegangen als bei uns, prozentual auf die Bevölkerung betrachtet.
Die elektronische Patientenakte (ePA) bietet, glaube ich, sehr viele Chancen, weil auch in dieser Akte wieder Daten zusammengeführt werden, Daten zur Verfügung stehen, Daten ausgetauscht werden können. Allerdings muss die ePA erst einmal etabliert sein und richtig funktionieren.
Es gab einen Use Case der Medizininformatik-Initiative, die Collaboration on Rare Diseases (CORD_MI), der jetzt leider ausläuft, wo wir versucht haben, ganz einfache Fragestellungen digital zu lösen. Die Ansätze könnten dann einfach in die Krankenhausinformationssysteme aufgenommen werden. Ein Beispiel: Menschen mit einer Sagittalnahtsynostose, einer vorzeitigen Verknöcherung einer Schädelnaht, werden bei der Geburt aufgrund der besonderen langgezogenen Kopfform in aller Regel sofort erkannt. Eine Sagittalnahtsynostose gibt es isoliert, d.h. ohne weitere Fehlbildungen oder Grunderkrankung, aber auch im Rahmen einer seltenen Stoffwechsel-Störung, der Hypophosphatasie. Bei dieser Erkrankung ist ein Blutwert, die alkalische Phosphatase, sehr niedrig. Auch erfordert die Hypophosphatasie eine spezifische Therapie. Wenn also ein Kind irgendwo in Deutschland mit dem Befund einer Sagittalnahtsynostose stationär aufgenommen oder ambulant gesehen wird, wäre es sinnvoll, dass der Computer dann fragt: Wurde die alkalische Phosphatase gemessen, und wenn ja, ist sie niedrig? Das Krankenhausinformationssystem könnte dann entsprechende Hinweise auf eine sinnvolle Ergänzung der Laborwerte oder die Diagnose und Therapie geben. Das sind Dinge, die man einfach implementieren könnte. In dem Projekt CORD-MI waren weitere entsprechende Ansätze angedacht wie eine Mustererkennung zur Identifizierung ähnlicher Patienten.
Was die Genetik anbetrifft, wird das Modellvorhaben in Paragraph 64 e im Sozialgesetzbuch V zur Genom-Medizin kommen, da sind auch gemeinsame Datenbanken und Auswerte-Strategien vorgesehen. Das wird das ganze Feld der Digitalisierung zur Unterstützung von Forschung und medizinischer Versorgung noch mal deutlich nach vorn bringen, weil man nicht mehr klinikintern denkt, sondern deutschlandweit mit genetischen Daten arbeiten kann. Dafür müssen mehrere aktuell existierende Tabus gebrochen werden bzw. Wege zum Datenaustausch und zur kooperativen Datennutzung auch im klinischen Kontext gefunden werden, was uns sehr viel weiterbringen wird.
Zum Schluss wollen wir noch einmal in die Zukunft schauen, aber nicht weit, sondern in die unmittelbare Zukunft: Was glauben Sie, ist in den nächsten zwei Jahren an Fortschritt in Bezug auf Digitalisierung und Seltene Erkrankungen möglich – und was ist besonders dringlich? Welche 1–2 Projekte können/sollten bis dahin verwirklicht werden?
Es gibt eine Reihe von dringlichen Problemen, an deren Lösung schon gearbeitet wird:
Das erwähnte Modell-Vorhaben zur Genommedizin ist ein wichtiges Projekt, das kommen wird. Es ist aus meiner Sicht auch Zeit.
Ein weiteres wichtiges Projekt ist die elektronischen Patientenakte. Bei der ePa weiß ich jedoch noch nicht, wie viel sie uns nützen wird, denn das kommt sehr auf die Ausgestaltung an. Aber wenn sie ordentlich gemacht wird, dann glaube ich, ist sie sehr wertvoll, auch für die Betreuung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen, weil einfach Daten beim Patienten gesammelt und zur Verfügung gestellt werden, ohne dass man überall Arztbriefe und Befunde zusammensammeln muss.
Andere Projekte sind nicht so klar zu definieren, aber auch wichtig. Man wird weiter an der Sichtbarmachung Seltener Erkrankungen im Gesundheitssystem arbeiten müssen, die EU verlangt das auch. Deutschland hat den Weg gewählt, die Kodierung der Seltenen an die Krankenkassen-Abrechnungsdaten zu koppeln, aber das ist nicht die optimale Lösung. Denn wenn ich die Seltene Erkrankung eines Menschen im Rahmen einer Konsultation oder eines stationären Aufenthaltes nicht behandelt habe, dann darf ich sie bei der Abrechnung gar nicht angeben, sonst mache ich mich strafbar. Wird ein Patient beispielsweise nur wegen eines Herzinfarkts behandelt, dann wird die Seltene Erkrankung z.B. einer Mukoviszidose dabei nicht erwähnt. Also weiß ich natürlich nie, ob der Mensch mit der Seltenen Erkrankung häufiger einen Herzinfarkt hat oder nicht. Wir brauchen also eine bessere Datenbasis, die kann nicht nur auf Abrechnungsdaten basieren.
Die Künstliche Intelligenz und das Machine Learning werden sicher gerade im Bereich der Seltenen Erkrankungen weiterentwickelt werden müssen. Dabei wird für KI auf allen Gebieten eine Regulierung kommen müssen, auch und gerade für die medizinischen Einsatzgebiete.
Beim Austausch von Daten, der Vernetzung von Daten gibt es viele Datenschutzfragen, die geklärt werden müssen, aber die wir auch klären werden und die sich klären lassen, wie zum Beispiel die Wahrung der Anonymität bei Auswertungen. Bei Seltenen Erkrankungen ist es sowieso schwierig, anonym zu bleiben. Wenn ich z.B. mit jemanden aus Berlin rede über einen Menschen, der die und die Erkrankung hat, und dass er ein bestimmtes Problem hat, dann sagt der Berliner: „Den kenne ich!“ Auch ohne Namens- oder Altersnennung. Diese Patienten sind natürlich schon überall mit einer Anfrage gewesen. Wenn ich andererseits weiß, in z.B. Köln gibt einen Patienten mit ähnlichen Symptomen oder Problemen wie bei einem Patienten bei mir, wie komme ich denn eigentlich in Kontakt mit den Kölnern, wie kann mich mit ihnen über ihren Patienten unterhalten, ohne dass es den Datenschutz verletzt? Wie weiß ich, wer den Patienten dort betreut? Darf ich das wissen? Andererseits aber nutzt natürlich den Patienten dieser Austausch, das ist auch aus Patientensicht, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt.
Die Patienten selbst sind eine sehr positive und treibende Kraft nicht nur bei der Definition von Forschungsschwerpunkten sondern auch bei der Weiterentwicklung der Datenschutzanforderungen in Abwägung zum medizinischen Nutzen. Aus Patientensicht gab es dazu einen sehr schönen Diskussionsbeitrag bei einem Treffen der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung, auf dem viele Aspekte rund um Seltene Erkrankungen angesprochen werden. Im Juni in Berlin ging es dieses Jahr auch um Digitalisierung, und da hat ein Patientenvertreter sehr vehement sinngemäß gesagt: „Wir können ja nicht unsere Kinder sterben lassen wegen Datenschutz!“ Ich glaube, in gewissen Grenzen hat er Recht. Wir müssen schneller und besser werden. Wir müssen auch aufpassen, dass wir uns nicht so blockieren, dass wir dafür Leib und Leben riskieren.
Wir müssen also viel mehr Ressourcen einbringen, um Datenschutz-konforme Lösungen zu finden. Wir müssen das jetzt regeln – schnell regeln und bundesweit regeln. Ein Problem in Deutschland ist, dass jedes Bundesland einen eigenen Datenschützer hat. Es wäre daher wichtig, dass ein übergeordnetes oder kooperatives Datenschutzgremium die wichtigsten Punkte jetzt regelt, und zwar gemeinsam und für alle Bundesländer. Wenn beispielsweise E-Mail nicht geht, dann muss es heißen: wir machen es so und so – also konkrete Vorschläge, die funktionieren. Im Moment müssen wir mit jeder Entwicklung zu unseren Datenschützern, die gehen zum Landesdatenschützer in Bayern, dann will NRW mitmachen, und dann müssen wir wieder die ganze Diskussion führen, zum Beispiel jetzt beim BASE-Netz. Und am Ende ist das Tool dann längst infrastrukturell veraltet, und jeder fragt sich: Meine Güte, wieso machen die das so primitiv? Das geht doch viel schöner und besser!